Beate Vera

Wer die Lüge kennt


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und dann die Ausbildung zur Simultandolmetscherin absolviert. Lea hatte Duncans Vater kennengelernt, war recht schnell schwanger geworden und mit ihm zurück nach Berlin in das Haus von Marks Großmutter gezogen, das sie beide aufwendig und mit viel Liebe zum Detail umgebaut hatten. Dann war Mark im vorletzten Jahr an Krebs verstorben, und Duncan war zum Studium nach Kassel gegangen. Als Lea sich gerade mit dem Alleinleben arrangiert hatte, war Glander in ihr Leben getreten – und hatte einiges in ihm durcheinandergebracht.

      Lea schien die Ereignisse rund um Glanders letzte Mordermittlungen gut verkraftet zu haben. Doch Glander war zu viele Jahre leitender Kripobeamter gewesen, um nicht zu wissen, dass Gewalt Spuren in der Psyche von Menschen hinterließ, die mit ihr in Berührung kamen. Er hatte mit vielen Opfern und Angehörigen zu tun gehabt, die erst Monate später von den Dingen eingeholt worden waren, die ihnen oder ihren Lieben widerfahren waren. Lea verfügte über gute Grundlagen in Psychologie – sie hatte erst vor Kurzem eine Gasthörerschaft an der Freien Universität in forensischer Psychologie belegt und nahm die Fachstudien sehr ernst –, und sie besaß gutes seelisches Rüstzeug, dennoch sorgte sich Glander um sie.

      Sie war eine schöne Frau, auf eine ganz eigene Art, und sie war anders als die Frauen, mit denen Glander bislang Beziehungen eingegangen war. Er war selbst immer wieder überrascht, dass sie nun Teil seines Lebens war.

      Leas langes kastanienbraunes Haar hatte sich aus ihrem Haargummi gelöst. Glanders Blick streifte die geschwungene Narbe, die das Messer des Wahnsinnigen im vergangenen Sommer auf Leas linkem Oberarm hinterlassen hatte und die nun langsam verblasste. Sie zog sich wie eine Welle von Leas Schulter bis zu ihrem Ellenbogen und war eine bleibende Erinnerung an Glanders schwersten Ermittlungsfehler. Lea betrachtete ihre Narbe weitaus pragmatischer. Für sie stellte sie ein Mahnmal ihrer Verwundbarkeit dar. Sie nahm die Erinnerung an die Hilflosigkeit, die sie durchlitten hatte, als der Mörder ihrer Nachbarn sie bedroht hatte, als stete Motivation für das Kampfsporttraining, das sie seit dem Herbst mit Merve absolvierte. Lea hatte sich mit Merve und Verve, wie sie es lachend beschrieb, in diese neue Aktivität gestürzt und schon beachtliche Fortschritte gemacht. Als Langstreckenläuferin verfügte sie zwar über eine ausgesprochen gute Grundkondition, die neuen Bewegungsabläufe brachten sie dennoch jedes Mal an die Grenze ihrer Fitness. Sie trainierte mit demselben großen Eifer und derselben Begeisterung, mit der sie alles anging, was ihr wichtig war.

      Glander liebte es, Zeit mit Lea zu verbringen. Wenn sie lachte, strahlten ihre graugrünen Augen. Er mochte die beiden Fältchen, die rechts und links ihrer Nasenwurzel auftraten, wenn sie sich ärgerte oder konzentrierte, und konnte von ihrer weichen Haut nicht genug bekommen. Ihr Duft und der kehlige Klang ihrer Stimme, wenn sie sich liebten, nahmen ihm den Atem. Glander war bis über beide Ohren verliebt, und er würde jeden Menschen, der Lea schaden wollte, ohne zu zögern aus dem Weg schaffen. Für diese Frau würde er alle Grenzen überschreiten.

      Die Türglocke unterbrach Glanders Gedankengang. Er stieg die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Vor ihm stand ein Unbekannter, der etwa einen halben Kopf größer war als er selbst und ihn zunächst überrascht, dann feindselig und schließlich lächelnd ansah. Sein Mienenspiel dauerte nur ein paar Sekunden und wäre jedem entgangen, der nicht so viel Erfahrung wie Glander im Deuten der Körpersprache besaß. Talisker, der neben Glander auftauchte, zog den Kopf ein. Glander teilte die spontane Aversion des Hundes, fragte den Fremden aber dennoch freundlich, wie er ihm helfen könne.

      Der Mann grinste schief und erwiderte etwas auf Englisch. Zumindest nahm Glander an, dass es Englisch war, denn er verstand kaum ein Wort. Sein Englisch war eigentlich ganz passabel, doch das hier klang eher nach Klingonisch. Glander vermutete, dass sich der Mann nach Lea erkundigte, und teilte ihm in seinem besten Oxford-Englisch mit, dass sie schliefe.

      Der Unbekannte war enttäuscht, das war nicht zu übersehen, und er fragte wohl, ob man Lea nicht wecken könne. Er entnahm einem ledernen Etui eine Visitenkarte und reichte sie Glander: Detective Chief Superintendent Connor Fraser, West Command, Greater Glasgow stand darauf zwischen dem Logo der schottischen Kripobehörde und einer schottischen Festnetznummer, einer Mobilnummer und einer E-Mail-Adresse.

      Was hatte Lea mit diesem schottischen Kriminalkommissar zu tun? Und warum suchte der sie zu Hause auf? Die Tagung begann doch erst am Montag. Während Glander noch überlegte, rempelte ihn Talisker an. Der Hund hatte sich umgedreht, um Lea zu begrüßen, die gerade die Treppe herunterkam.

      Durch ihr weißes Rippshirt war deutlich erkennbar, dass es sie fröstelte. Sie zog ihre lange graue Wollstrickjacke fester um sich, strich sich mit der linken Hand ihre Haare aus dem blassen Gesicht und kreuzte die Arme vor der Brust. »Sorry, Martin, ich bin glatt über den Tagungspapieren eingeschlafen. Wer ist es denn?« Dann fiel ihr Blick auf den Mann im Türrahmen, und ihr Gesicht verlor seine Farbe.

       5

      Glander schaute von Lea zu Connor Fraser und hatte gar kein gutes Gefühl. Lea war wie vom Donner gerührt, und es kostete sie offensichtlich einige Mühe, sich wieder in den Griff zu bekommen. Auch Fraser hatte sich für einen Moment nicht unter Kontrolle, und was da in seinem Blick lag, war nicht zu missdeuten.

      Glander räusperte sich und wandte sich an Lea. »Lea, willst du deinen Bekannten nicht hineinbitten? Vielleicht klärt ihr, was auch immer zu klären ist, drinnen und nicht in dieser Kälte.«

      Lea nickte abwesend und bat Fraser auf Englisch einzutreten, in aller Förmlichkeit darauf hinweisend, dass er nicht lange bleiben könne. Fraser nickte Glander zu und trat in den Flur. Der Fremde und Lea standen sich gegenüber, und Glander sah beiden die Unsicherheit darüber an, wie sie sich begrüßen sollten. Fraser wollte Lea offensichtlich umarmen, aber der war das nicht recht. Glander fragte sich, ob das an ihrer legeren Kleidung lag oder an seiner Gegenwart. Wer zum Teufel war dieser Typ? Und was war zwischen den beiden gelaufen? Dass da etwas gelaufen sein musste, war eindeutig. Glander gab Lea einen Kuss auf die Wange und versuchte einen möglichst stilvollen Abgang hinzulegen.

      »Ich lasse euch mal alleine. Merve und ich haben einen neuen Auftrag. Ich bin so gegen neun wieder hier, denke ich. Ich nehme Talisker mit und drehe vorher noch eine Runde mit ihm, in Ordnung? Falls ich früh genug zurück bin, mache ich auch noch die späte Biege mit ihm.«

      Lea schien gedanklich von weit her zu kommen und ihn für einen Moment nur verschwommen wahrzunehmen. Dann wurde ihr Blick wieder klar. »Ja, okay … Danke, Martin! Ich … Wir reden später, ja?«

      Glander nickte und griff nach seiner Jacke und Taliskers Leine, die an der Garderobe im Flur hingen, verabschiedete sich von Fraser mit einem kurzen Kopfnicken und gebot Talisker, ihm zu folgen. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, schickte er Merve eine SMS. Sie solle nicht zu ihm herüberkommen, er käme zu ihr. Dann machte er sich auf den kurzen Weg die Straße hinauf zum Haus von Merves Schwester. Merve und er hatten einen neuen Fall, und auf den galt es sich jetzt zu konzentrieren. Alles Private würde warten müssen. Auch wenn ihm gar nicht wohl dabei war.

      Lea gab Connor Fraser exakt zehn Minuten Zeit, ihr zu erklären, warum er sie zu Hause aufsuchte, bevor sie ihn bat, wieder zu gehen. Sie würden sich am Montag auf der Tagung begegnen, auf jeden weiteren Kontakt lege sie keinen Wert. Es habe sich nichts geändert, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

      Fraser hatte sich im Griff. Der aufflammende Zorn in seinen Augen wich einer kalten Leere, obwohl er sie anlächelte. Seine leicht heisere Stimme und der vertraute Dialekt weckten viele Erinnerungen in Lea. Doch ihr letztes Treffen überschattete sie alle.

      »Ach, komm! Es ist so viel Zeit vergangen, und ich bin nicht mehr der Idiot von damals. Gib dir einen Ruck und mir eine zweite Chance! Lass uns heute Abend essen gehen«, sagte er auf Englisch.

      Lea traute ihren Ohren nicht. Essen gehen? Eine zweite Chance? Nach all den Jahren? Nach allem, was damals passiert war? Hatte der Mann seinen Verstand verloren? Sie hatte einen großen Fehler gemacht, diesen Auftrag anzunehmen. Sie hatte sich gewaltig über- und ihn fehleingeschätzt. Lea hatte mit einem kleinlauten Auftritt seinerseits gerechnet, einer vorsichtigen Annäherung in einem passenden Moment im Laufe der Tagungsfreizeit. Sie hatte erwartet, dass er ihr so etwas wie eine Erklärung und eine ehrliche