dass die hohe Auszeichnung im Dorf nicht angemessen gewürdigt wurde.
Mein Bruder war auch als Infanterist begeistert in den Krieg gezogen. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Fürs Volk und Vaterland. Es gibt nichts Schöneres als vor dem Feind zu fallen.“ Spontan möchte man ihm mit Arno Schmidt entgegenschleudern: „Ehe du für dein Vaterland sterben willst, sieh dir‘s erst mal genauer an!“ Bis heute ist mir der Satz vom schönen Heldentod unfassbar. Nichts gegen Sätze wie: Es gibt nichts Schöneres als lieben und geliebt zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als am Abend ein köstliches Bier zu trinken. Es gibt nichts Schöneres, als eine Arbeit, die einen ausfüllt. Es gibt nichts Schöneres als dem Schweigen eines Dummkopfs zuzuhören (wo hab‘ ich das bloß her?). Ja, ich begreife selbst Ilja Ehrenburgs Äußerung aus dem Jahre 1942: „Wenn du einen Deutschen getötet hast, bring den nächsten um – es gibt nichts Schöneres als deutsche Leichen.“
Auf der Straße vor dem Haus waren wir schnell von vier, fünf Dorfbewohnern umringt, die uns offensichtlich freundlich gesinnt waren, fragten, wie es den Löschmanns ergangen sei. Unter ihnen der Pole von gegenüber, bei dem ich fast zwei Jahre als Pferdejunge gearbeitet hatte. Der Teufel muss mich geritten oder die Verklärung der Kinderzeit mich überwältigt haben, als ich ihm gegenüber ein, mein krönendes Lebensresümee gebe: „Wissen Sie, meine schönste Zeit war eigentlich die nach dem Krieg bei Ihnen: keine Schule, Pferde füttern, striegeln, aus- und anspannen, reiten, pflügen und die herrlichen Ausfahrten am Wochenende. Erinnern Sie sich? Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Das war sein Lieblingslied, er sang es immer, sobald ich ihn, meistens eine Frau neben sich, von Hochzeiten, Kindtaufen, Begräbnissen nach Hause kutschierte. Ich geriet in Fahrt, wurde aber jäh gebremst, denn sein Gesicht versteinerte förmlich. Zu spät. Mit dem knappen Hinweis, er habe zu tun, verließ er abrupt die Runde. Offensichtlich hatte ihn ein Schuldgefühl den Perspektivwechsel nicht mit vollziehen lassen. Wie hätte ich mit zehn die Schule vermissen sollen? Mit Pferden selbstständig umzugehen war für einen Bauernjungen das größte Glück. Was scherte mich, wem Haus und Boden gehörten. Noch in Zeitz hätte ich davon geschwärmt, Bauer zu werden, schreibt Irla, „und sei es auf einem ganz kleinen Hof wie dem von Knuths in Bernsdorf.“ Von dieser Sehnsucht ist nichts übrig geblieben. Bernsdorf kein Sehnsuchtsort.
Ich glaube es manchmal fast selbst nicht, wenn ich von diesen Nachkriegsjahren in Polen erzähle. Ich soll mit meinen 11 Jahren eine Kutsche mit zwei Pferden über Stock und Stein gelenkt, einen Mann kutschiert haben, der Zuchthaus und KZ überlebte, nach dem Krieg zum Besitzer eines Hofes gemacht worden war und nur eines im Kopf hatte, nach all den Entbehrungen in vollen Zügen zu genießen. Unglaublich, hätte ich nicht in meinem 68. Lebensjahr in Myanmar mit eigenen Augen gesehen, was Kinder oft schon leisten müssen: harte Garten- und Feldarbeit, stundenlanges Sitzen beim Zigarrenwickeln, Teppichknüpfen, Krabbenpuhlen, Steine klopfen im Steinbruch. Kinderarbeit, die es nicht und nirgends geben dürfte.
Julika, die mit ihren 14 Jahren bis dahin keine nennenswerte körperliche Arbeit verrichtet hatte, konnte es nicht fassen und verdrehte die Augen ungläubig, als ich berichtete, wie ich als Achtjähriger allein Kühe hütete, dass wir Kinder bei vielen Tätigkeiten auf dem Hof zugreifen mussten. Im Frühjahr und Herbst sammelten wir Steine von den Feldern. Sie kamen in große Körbe, die möglichst gut gefüllt zum Wegesrand geschleppt wurden. Thomas Mann schrieb einmal an Arnold Schönberg: „Ich kann von meinem Stein nicht lassen.“ Er hatte ihn bei einem Strandspaziergang auf Usedom gefunden, schleppte ihn seither mit sich herum, wo immer sein Schreibtisch stand, in München, Los Angeles, Kilchberg bei Zürich. Für mich waren Steine lange Zeit etwas Bedrohliches im wahren Sinne des Wortes Belastendes. Erst im Alter habe ich mich am Sammeln beteiligt: Steine aus Algerien, Australien, Brasilien, England, Griechenland, Schottland, Schweden, Ungarn, von der Ostsee, vom Baikalsee, vom Flussufer des Ob, aus den Rocky Mountains, von der Halbinsel Sinai, aus Oman, von überall her liegen auf der kleinen Dachterrasse in Berlin. Steine als Metapher für Stärke, Steine, die zum Sprechen gebracht, aus dem Weg geräumt werden können, müssen, Steine als Gedächtnisstütze. Spur der Steine von Erik Neutsch, Skulpturen aus Stein gehauen, Werner Stötzers Sandsteingestalt an der Mole in Warnemünde, Penelope, auf Odysseus wartend, mit dem Blick nach Osten, ein gestalteter Stein für all jene Seemannsfrauen, deren Männer nicht mehr heimkehrten. Es dauerte Jahre, ehe die Rostocker Behörden die Aufstellung des Denkmals erlaubten. Man wollte nicht öffentlich wahrhaben, dass der Tod, der aus dem Meer kommt, die DDR nicht umschiffte und immer wieder Seeleute auf dem Meer blieben. Als ob es das Sterben im Arbeitsprozess nicht geben durfte. Grabstein, bloß keinen Grabstein.
Wenn irgend möglich, musste ich unsere Kühe auf Wiesen und Felder treiben, nicht selten ein, zwei Kilometer weit, und das zweimal am Tage. Die Tiere wurden nicht draußen auf der Weide gemolken, wie es heute üblich ist, sondern im Stall. In diesem Punkt gab es zumindest bei meinem Vater ein Erkenntnisdefizit: Kühe, die am Tage 4 bis 6 km laufen, geben weniger Milch als die, die im Sommer draußen, z.B. auf der Alm bleiben. Da es keine eingezäunten Weiden gab, bedurfte es eines Kuhjungen, eines Hirten. Der kleine Steppke, sein Schäferhund Rolf und die Kühe, ja, ich wurde bewundert und genoss die Bewunderung, bis mich eine meiner Schwarz-weiß-Gefleckten im wahrsten Sinne des Wortes überrannte. Es war an einem sehr heißen, schwülen Tag im Juli 1944, als eine Kuh, die gerade noch lethargisch herumgestanden hatte, ab und an Bremsen abwehrend, mit schnellem Antritt und hochgestrecktem Schwanz den Gipfel eines Hügels erstürmte, schnaufend innehielt und plötzlich, ehe ich mich versah, mit gesenktem Kopf herunterstürzte und an mir vorbei Reißaus nahm, die Bremsen hinter sich lassend, zwei Kühe folgten ihr stehenden Fußes. Ich war machtlos, weinte und musste die drei Kühe ziehen lassen. Rolf griff nicht in das Geschehen ein.
War das ein Grund, weshalb wir Jungen ihn manches Mal furchtbar quälten: Wir wussten, dass sich der hochempfindliche Schwellkörper des Penis in einer schützenden Hauttasche an der Bauchseite befindet. Den legten wir frei und rieben ihn mit Hagebutten ein. Das durch Mark und Bein gehende Gewinsel erlosch erst nach x Versuchen, sich von dem Juckreiz zu befreien. ‚Tierische‘ Freude kam bei uns Jungen vollends auf, wenn wir uns von hinten an die Mädchen heranschlichen und Nüsschen der Hagebutte mit ihren feinen, widerhakenbestückten Härchen zwischen Blüschen und Rücken bugsierten.
Zu Hause ging ein Donnerwetter los, warum ich mich dieser Kuh nicht in den Weg gestellt hätte. Hatte ich, bloß die Kuh beachtete mich nicht, und ehrlich gesagt, ich war in letzter Sekunde zur Seite gesprungen, es ging alles furchtbar schnell. „Du musst dich der Kuh entschlossen entgegenstellen. Beginnt sie mit dem Schwanz zu wedeln, hin zu ihr und sie mit dem Hund von ihrem Startplatz vertreiben.“ Einleuchtend, aber ich schien einfach zu klein zu sein, die Theorie erfolgreich umzusetzen. Jedenfalls ist diese Kuh noch mehrmals durchgebrannt.
An Arbeit gewöhnt, empfand ich es in meiner Pferdejungenzeit keineswegs als diskriminierend, dass ich nun zum Personal rechnete und in Vorräumen, in Küchen abgespeist wurde, das wiederum reichlich und gut. Nicht selten wurde mir ein Kuchenpaket zugesteckt oder Braten, falscher Hase, den ich besonders gern aß. Ich fühlte mich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Objektiv gesehen, verharmloste ich mit der positiven Erinnerung die für unsere Familie katastrophale Nachkriegszeit, indem ich sie sozusagen kindlich naiv schönfärbte. Das musste bei meinem Gegenüber zumindest zum Missverständnis führen. Ähnlich geht es mir, wenn ich an Stammtischen oder anderswo höre, wie ehemalige Kriegskameraden ihre Fronterlebnisse immer wieder aufs Neue austauschen und dabei ins Schwärmen geraten. Sie haben überlebt. Auffallend allerdings, dass derart verklärende Berichte über die Ostfront im Vergleich zu anderen Fronten weniger im Umlauf sind. Oder irre ich mich da?
Frau Flissakowski bittet uns ins Haus. Wir treten durch die Tür vom Hof her ein. Wie früher. Der eher repräsentative Eingang von der Dorfstraße wurde ausnahmslos bei feierlichen Anlässen geöffnet.
Irlas Kriegshochzeit war eine solche Gelegenheit, bei der trotz der furchtbaren Geschehnisse kräftig gefeiert wurde. Ein Kalb und ein Schwein waren extra geschlachtet worden, wozu man in den letzten Kriegsjahren eine Genehmigung brauchte. Eine Amtsperson wollte die im Nachgang sogar einsehen. Folgen hatte die hochnotpeinliche Befragung für den Bürgermeister Löschmann wohl keine. Dass mein Vater Bürgermeister war habe ich früher in allen Fragebögen verschwiegen. Großbauernsohn und Bürgermeistersohn – das hätte mich in der DDR zusätzlich belastet.