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ERIKA URBAN
INHALT
PROLOG AUF DEM BRUNNENMARKT
Die Sonnenstrahlen stachen wie Dolchstöße auf die Köpfe der hechelnden, überstressten Menschen ein, die sich an diesem glühend heißen Samstagmorgen im August über den überfüllten Brunnenmarkt schoben, stets eingezwängt zwischen schwitzenden, stinkenden Körpern, die sich aneinander rieben und stießen wie in einem bizarren Liebesakt. Es sollte einer der heißesten Tage dieses Sommers werden, hatte morgens eine gut gelaunte Radiostimme verkündet und auf die zahlreichen Freibäder verwiesen.
Carla Wolf strich sich eine feuchte blonde Strähne aus dem Gesicht und rempelte eine ältere Dame an, die im Weg stand. Gerne wäre sie jetzt an der Donau gesessen, die akkurat pedikürten Füße ins Wasser gestreckt und einen Cocktail in der Hand haltend. Alles wäre besser, als über diesen grauenhaften Markt zu hetzen. Sie war definitiv die falsche Frau für diesen Ort. Bei Meinl Südfrüchte kaufen, im Sacher Pralinen verkosten oder sogar am Naschmarkt ein Gläschen Weißen zu einem halben Dutzend Austern genießen – das war ihre Welt. Nicht dieser stinkende Bazar in Ottakring mit all seinen abgeschabten Ständen und den aufdringlichen Marktschreiern, wo man alle naselang auf alten Tomaten ausrutschte oder den Blicken irgendwelcher vulgären Männer ausgesetzt war. Wahrscheinlich hatte Peter ihr genau deshalb den Brunnenmarkt im 16. Bezirk als Treffpunkt vorgeschlagen: um sie zu ärgern, zu demütigen. Bereits zwei Jahre lag die Scheidung von Peter Lehmann nun zurück und immer noch setzte er alles daran, sie zu beleidigen, ihre Würde zu verletzen. Nur weil er selber ein Verlierer auf ganzer Linie war.
Marie zerrte an ihrer Hand. „Wann sind wir endlich beim Papa?“
Carla Wolf bedachte ihre Tochter mit einem entnervten Blick. Maries feuchte Hand umklammerte die ihre. Die Kleine quengelte. Sie hatte Durst. Es war zu heiß. Sie wollte nach Hause. Warum konnte der kleine Quälgeist nicht einfach still sein? Die ganze Situation war unangenehm genug. Gereizt herrschte sie ihre Tochter an, endlich zu schweigen, und schlängelte sich weiter durch die Menschenmassen. Bald hätten sie es geschafft. „Mama, schau mal. Schau doch mal!“, sagte Marie plötzlich. Carla verspürte ein Ziehen an ihrer Hand. Unwirsch zog sie die Kleine näher zu sich, blickte sie kurz strafend an, ohne dabei mit den Augen dem ausgestreckten feingliedrigen Zeigefinger zu folgen, und konzentrierte sich dann wieder auf den Weg.
„Aber, Mama, schau doch nur, da vorne“, vernahm sie wieder die zarte Stimme.
Ihre Hand war schweißnass. Für einen kurzen Moment ließ sie los und wischte sie sich an ihrem weißen Leinenkostüm ab. Dann ergriff sie schnell wieder die Kinderhand und zog sie weiter die schier endlos lange Straße entlang. Endlich teilte sich der Menschenstrom, in dem sie die ganze Zeit mitgeschwommen waren. Sie hatten die Kreuzung erreicht. Ein frischer Lufthauch kam von irgendwoher und sie sog ihn gierig ein. Ihre Hand, die immer noch Maries fest umfasst hielt, lockerte sich.
Mit einem Seufzer sagte Carla Wolf: „So, Marie, jetzt sind wir gleich beim Papa“, wandte sich ihrer Tochter zu und erstarrte. Die kleine Mädchenhand, die sie hielt, war braun und irgendwie fleckig verdreckt. Das dazugehörige Kind hatte große dunkle Augen und schwarze, verfilzte Locken. Sein Gesicht war so dunkel und verschmutzt wie seine Hände. Als es grinste, entblößte es eine Reihe brauner Zähne, die unter den trockenen, rissigen Lippen schief hervorstanden. Carla Wolf starrte das fremde Kind fassungslos an. Das war nicht Marie.
Ihre Marie war blond, zart und vor allem sauber, trug ein rosa kariertes Sommerkleidchen sowie helle Sandalen. Ihre Marie hatte weiße, gerade Milchzähnchen und kleine braune Sommersprossen um ihr blasses Näschen. Genau das waren Carla Wolfs Gedanken in dem Moment, als das Kind sich losriss, sich umdrehte und wegrannte. Nur Sekunden vergingen, dann hatten es die Menschenmassen verschluckt.
Entgeistert starrte Carla auf ihre Hand. Ein Schrei formte sich in ihrer Kehle, drang nach oben und entlud sich schließlich mit aller Kraft über den Brunnenmarkt.
SEIT 48 STUNDEN VERMISST
Emma Roth saß auf ihrem Klo und drückte so stark, dass ihr Gesicht rot anlief. Die Oberschenkel rutschten über die glatte Keramikoberfläche der WC-Brille. Die Waden drückte sie gegen die kühle Kloschüssel, auf der sie in gekrümmter, mitleiderregender Haltung hockte.
Ja, sie hatte gestern wieder übertrieben. Es hatte so harmlos angefangen. Ein kleiner Absacker nach einer anstrengenden Wochenendschicht. Allein versteht sich, denn mit ihren Kollegen verband sie wenig – und vor allem nicht die Lust an hochprozentigen Getränken, französischen Zigaretten und dunklen Bars. Dann war da dieser Kerl gewesen, Mitte vierzig, Typ Banker, aber ganz attraktiv. Zusammen waren sie in einer düsteren Kneipe gelandet, wo sie sich völlig in Zeit und Raum verloren hatten. Der Rest war Dunkelheit.
Mit einem unterdrückten Grunzen spürte sie, wie ihr Darm sich bereit machte, alle Sünden der letzten Nacht hinauszuspülen. Gleichzeitig stieg ihr ein bitterer Schuss Magenflüssigkeit nach oben und überschwemmte die Mundhöhle wie ein Tsunami. Jetzt meldeten sich beide Organe gleichzeitig zu Wort, tanzten einen wilden Tango in ihrem Bauch, vor und zurück, eine schnelle Drehung – sie würgte und schaffte es gerade noch, den blauen Putzeimer zu packen, der, seit seinem Kauf vor einem Jahr unbenutzt, neben der Toilette vor sich hin vegetierte. Sie atmete tief durch, riss ein Stück Klopapier von der Rolle und wischte sich damit über den Mund. Es ging ihr besser. Der drückende Schmerz in Magen und Darm war weg. Jetzt noch zwei Tabletten gegen das hartnäckige