„Und wenn sie Euch sagen: ‚Da ist Politik‘, dann sagt ihnen, dass das der Islam ist und wir die Trennung in Religion und Politik nicht kennen.“
Hasan al-Bannā, Gründer der Muslimbruderschaft
Die Idee, sich auf die Vorväter, auf einen als „wahr“ und „unverfälscht“ imaginierten Islam der Anfangszeit zu beziehen, existiert spätestens seit dem 9. Jahrhundert. In der Geschichte der islamischen Welt gab es immer wieder Denker, Prediger und Herrscher, die zu einer Rückbesinnung aufriefen, um die Herrschaft des Islam zu neuer Größe zu führen. Der Islamismus im eigentlichen Sinne kann als spezifisch islamische Reaktion auf die Moderne verstanden werden, wenngleich er sich auf mittelalterliche puritanische Denker24 beruft.
Die westliche Moderne zeichnet sich, beginnend mit der Aufklärung, in erster Linie durch Individualisierung der Gesellschaft aus, das heißt durch die Herauslösung des Einzelnen aus seinen traditionellen Bindungen an Familie, Clan und Stand. Erst durch diesen Schritt wurde der Gedanke der individuellen, voraussetzungslosen Menschenrechte möglich: Rechte, die dem Einzelnen aufgrund seines Menschseins zustehen und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, einer bestimmten Religion oder seines Geschlechts. Mit der Befreiung des Individuums wurden in Gestalt politischer Ideologien aber auch jene Kräfte geboren, die das Individuum wieder in den Schoß der Kollektive zurückdrängen wollen. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Bestrebungen ist Teil der europäischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte: vom jakobinischen Terror bis zu den Verbrechen der großen ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Europa.
Am Ende des 18. Jahrhunderts brach diese Moderne jäh in die islamische Welt ein. Nach der Landung Napoleons in Ägypten (1798) eroberten die Franzosen binnen weniger Wochen das ganze Land. Drei Jahre später waren es nicht etwa der ägyptische Widerstand oder die osmanische Armee, die die napoleonischen Truppen zum Rückzug zwangen, sondern die Briten.25 Zwar gehörte Ägypten fortan wieder zum Osmanischen Reich, der Einfluss des Sultans schrumpfte jedoch zusehends. Diese drei Jahre hatten der islamischen Welt endgültig vor Augen geführt, dass sie nach eintausend Jahren erfolgreicher kriegerischer Eroberung und dem Aufbau zweier Imperien nicht mehr im Zentrum der Weltpolitik stand, sondern von aufsteigenden europäischen Mächten abgelöst und zu deren Spielball degradiert worden war.
Napoleons Siegeszug war jedoch nur das offensichtlichste Symptom des wirtschaftlichen und militärischen Niedergangs eines Imperiums, das das östliche und südliche Mittelmeer, das Gebiet vom Balkan bis nach Persien und zeitweise um das Schwarze Meer herum jahrhundertelang beherrscht hatte. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erhoben sich zunächst die Griechen, später auch die Serben und Bulgaren. Binnen weniger Jahrzehnte hatte das osmanische Reich den größten Teil seiner europäischen Gebiete verloren. Gleichzeitig entledigten sich erste arabische Gebiete der osmanischen Hoheit. Die Schwäche der Osmanen nutzten Frankreich, England und Russland aus, um sich Teile der bislang osmanisch regierten arabischen Welt beziehungsweise weite Teile Zentralasiens und des Kaukasus einzuverleiben.
Während christlich bewohnte Gebiete des Reiches diese Entwicklung begrüßten, gerieten erstmals Millionen Muslime unter nicht islamische Herrschaft. Man kann hier aus islamischer Perspektive von einer historisch neuen Situation sprechen, die im theologisch-politischen Konzept des Islam nicht vorgesehen war. Nie zuvor mussten muslimische Gesellschaften unter nicht islamischer Herrschaft leben. Es ist leicht nachvollziehbar, dass der Verlust der Weltmachtstellung in der islamischen Welt zu einem tiefen Trauma führte.
› Diese gravierenden Veränderungen weckten den Ruf nach einer Rückbesinnung auf die als glorreich überlieferte Frühzeit des Islam, mit dem Ziel, die verloren gegangene Größe und Dominanz in der Welt zurückzugewinnen.
Es waren verschiedene islamische Denker, die als Reaktion auf diese Krise eine rückwärtsgewandte Utopie entwickelten26, die als Vorläufer der heutigen islamistischen Bewegungen betrachtet werden kann. Im 19. Jahrhundert entstanden auch die ersten modernen puritanischen Bewegungen, wie etwa die Deobandis in Indien. Letztlich liegt dem Islamismus der Versuch zugrunde, die Diskrepanz zu beseitigen, die sich aus erlebter Realität einerseits und dem Glauben an die von Gott versprochene Weltherrschaft des Islam andererseits ergab.
Neben der rückwärtsgewandten puritanischen Bewegung entwickelte sich auch eine Denkrichtung, deren Ziel Modernisierung und Weiterentwicklung war. Der albanischstämmige osmanische Vizekönig von Ägypten, Muhammad Ali, suchte den Anschluss an die europäische Moderne. Zwischen 1826 und 1831 entsandte er eine große Expedition nach Paris, mit dem Auftrag, dort Wissen zu sammeln. Darauf aufbauend modernisierte er das Land am Nil mit eiserner Hand. Einer der Teilnehmer der Expedition, der ägyptische Gelehrte Rifa’a Rafi at-Tahtawi, beschäftigte sich in seinem Reisetagebuch mit den zivilisatorischen Errungenschaften Europas und sprach sich für eine Bildungsoffensive in der islamischen Welt aus, ohne dabei die westliche Kultur zu übernehmen.27
Etwa 120 Jahre nach Napoleons Ägyptenfeldzug kam es 1924 zum zweiten traumatischen Einschnitt: die Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal Pascha (1881–1938), der später mit dem Ehrennamen „Atatürk“ bedacht wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs versuchten Großbritannien und Frankreich, das verbliebene anatolische Kernland des Osmanischen Reiches zu zerstückeln, große Teile sollten an Griechenland, Frankreich, Italien und Armenien gehen. Dagegen mobilisierte Mustafa Kemal den militärischen Widerstand. Nach dem Sieg gegen die Alliierten, der die Türkei als Staat in seinen heutigen Grenzen sicherte, baute er das Land zum Nationalstaat nach europäischem Vorbild um. Das beinhaltete auch die gewaltsame Zurückdrängung des religiösen Establishments, um dessen politische Macht zu brechen. Die religiöse Gemeinschaft der Umma wurde durch eine nationalistische Identität ersetzt.
Mit der Abschaffung des Kalifats war die sunnitische Welt ihres geistigen Oberhaupts beraubt worden. Seit den Tagen Sultan Selims I., also seit mehr als 400 Jahren, hatte sich der Sitz des Kalifen in Konstantinopel/Istanbul befunden. Vier Jahre nach der Abschaffung des Kalifats gründete Hasan al-Bannā wie erwähnt in Ägypten die Muslimbruderschaft, die sich fortan als islamistische Massenbewegung erfolgreich über Ägypten hinaus ausbreitete und binnen weniger Jahrzehnte zur einflussreichsten islamistischen Bewegung entwickeln sollte. Die tunesische ENNAHDA ist ebenso ein Ableger der Muslimbruderschaft wie die Hamas, die „Islamische Aktionsfront“ in Jordanien, die FIS in Algerien oder die „Nationale Islamische Front“ im Sudan.
Aber auch in der Türkei selbst blieb in religiösen Kreisen der Glaube an die Wiedererrichtung des Kalifats virulent. Seit die AKP mit Erdoğan die Wahlen gewinnen konnte, ist die ideologische Rückbindung an die Zeit des Osmanischen Reichs und an das Kalifat unübersehbar geworden. Deutlich wird das auch am Versuch, den kemalistischen Nationalmythos, die Schlacht von Çanakkale (Gallipoli) im Jahr 1915 in einen Sieg des Islam umzudeuten. Galt diese Schlacht im modernen türkischen Nationalbewusstsein als Sieg der türkischen Nation über die Alliierten und damit als Geburtsstunde der modernen Türkei, so wird sie im Denken türkischer Islamisten nun zu einem Sieg über die „Ungläubigen“. Ein Narrativ, das auch in türkischen Moscheen in Westeuropa präsent ist.28 In islamistischen Kreisen wurde Atatürk stets als Feind des Islam betrachtet und mitunter bezichtigt, ein Jude zu sein. Die Abschaffung des Kalifats konnte man sich nur als eine Verschwörung vorstellen. Unter Erdoğans Führung ist eine zunehmende Abwendung vom bislang übermächtigen Gründervater der Türkei zu bemerken.
DIE ISLAMISIERUNG DER ISLAMISCHEN WELT
Zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren erlangten alle vormals kolonisierten islamischen Staaten die Unabhängigkeit. Vor allem die Staaten Nordafrikas und der Levante orientierten sich in der Folge an europäischen politischen Systemen. Sozialismus, Nationalismus und verschiedene Mischformen, wie etwa jene der syrischen oder irakischen „Baath-Partei“, hatten ab den 1940er-Jahren Konjunktur, konnten aber letztlich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ihrer Länder nicht lösen. Spezifische, über Jahrhunderte verfestigte autoritäre Strukturen – von der Führung bis auf die untersten Ebenen der Gesellschaft –, Klientelwirtschaft, Korruption und ein