Eva Prawitt

Und was, wenn ich mitkomme?


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      EVA PRAWITT

       »Und was, wenn ich

       mitkomme?«

      Zu zweit unterwegs auf dem Jakobsweg

      Für Doris und für alle,

       die mit uns auf dem Weg sind.

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

      ISBN 9783865064462

      © 2010 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

      Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

      Titelfoto: mauritius images

      Satz: Satzstudio Hans Winkens, Wegberg

       www.brendow-verlag.de

      INHALT

       Cover

       Titel

       Impressum

       Prolog

       1. TEIL Freude und Frust, Schönheit und Schmerz: Irun bis Santiago de Compostela

       2. TEIL Am Ende ein Anfang: Finisterre, Muxia, La Coruña, Ferrol

       3. TEIL Ankommen: Ferrol bis Santiago und nach Hause

       Epilog

       Er bewunderte die sonderbare Verblendung der Menschen, die doch recht gut wissen, was alles sich in ihnen selbst verändert, aber ihren Freunden ein für allemal das Bild, das sie sich von ihnen gemacht haben, aufzwingen wollen. Ihn selbst beurteilte man nach dem, was er gewesen war.

      ALBERT CAMUS

       aus: Der glückliche Tod

      Sie ist unglücklich, aber sie weiß, dass es nicht an der Nasennebenhöhlenvereiterung liegt, mit der sie sich seit Wochen herumschlägt. Sie hat das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Das Ringen um Luft hat sie ermüdet, wie nach langer, harter Arbeit. Doch sie kommt nicht zur Ruhe. Jeden Abend grübelt sie sich mühsam in den Schlaf.

      Mitternacht ist längst vorüber. Durchs Schlafzimmerfenster flirren Sternenfunken wie zersprungenes Glas, gedämpft durch das Licht einer entfernten Straßenlaterne. Die Nachbarhäuser liegen schweigend und dunkel da, genauso wie ihr Mann im Bett neben ihr. Er hat einen Arm von sich gestreckt, als wolle er nach etwas greifen, aber sein Gesicht ist wunschlos entspannt. Falten blättern sich um seine geschlossenen Augen, seine Stirn ist wulstig wie bei einem Säugling, an den Wangen faltet sich seine Haut, als sei sie eine Nummer zu groß für ihn. Sie weiß, dass sich beim Aufwachen seine Gesichtszüge straffen werden. Aber jetzt schläft er. Und das würde sie auch gerne tun. Sie will schlafen und so bald nicht mehr aufwachen.

      Sie kann sich nicht erinnern, wann sie nicht dieses Bedürfnis verspürt hätte. Sie weiß nicht mehr, wann sie das letzte Mal morgens mit Freude und Energie aus dem Bett und in den Tag gesprungen wäre.

      Mein Gott, was ist bloß los mit ihr?

      Ihr Mann neben ihr atmet leise und gleichmäßig.

      »Ich hab die Nase voll«, flüstert sie in seine Richtung, aber er regt sich nicht. »Und zwar gestrichen«, fügt sie etwas lauter hinzu, was zur Folge hat, dass er sein Gesicht von ihr wegdreht, ohne zu erwachen.

      Sie setzt sich im Bett auf und starrt aus dem Fenster. »Schon mal was von Psychosomatik gehört?«, fragt sie sich selbst und nickt. Sie hat die Nase voll, und zwar nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn. Sie ist voll von zurückgehaltenen Gedanken. Sie hat Vitamine in sich hineingestopft und Antibiotika, hat ihre Nebenhöhlen mit Salzwasser gespült und hing alle naselang bei Ärzten herum, ohne dass ihre Kraft zurückgekehrt wäre und ohne dass sich das Geringste geändert hätte.

      Etwas zu ändern ist schwer.

      Dabei ist doch in den letzten Jahren alles so anders geworden: Die Kinder sind aus dem Haus, sie selbst hat ein paar Fortbildungen hinter sich gebracht, das Haus ist leer und öde und viel zu groß. Sie hat das Gefühl, bloß noch zu putzen, dabei war sie niemals gerne Hausfrau. »Aber du kochst gut«, hat ihre Schwiegermutter sie gelobt. Aber gut und gerne sind zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. Bis jetzt hat sie das noch niemandem begreiflich machen können. Auch nicht, dass sie nicht gerne Klamotten einkauft oder sich zum Kaffeetrinken trifft. Sie hat keine Lust auf Gymnastikgruppen und Jogging. Sie ist es leid, ein ewig offenes Ohr für die Wehwehchen ihrer Familie und anderer Nahestehender zu haben, und sie findet es eine Zumutung, ständig zur Verfügung stehen zu sollen. Sie mag es nicht, überrascht oder beobachtet zu werden. Intimität und Privatsphäre sind ihre Höhlen, in die niemand unaufgefordert eindringen darf. Sie meidet Menschenansammlungen und hasst Feste, auf denen nicht getanzt und gesungen wird, auf denen es nur ums Essen und Trinken und den Smalltalk geht. Sie möchte nicht verbessert werden wie ein Schulmädchen oder gemaßregelt, wenn sie mal aus dem Rahmen fällt. Sie möchte aus dem Rahmen fallen und impulsiv sein. Sie sieht nicht ein, warum sie Sachen wissen soll, die sie nicht betreffen und die sie auch nichts angehen, und warum sie – selbst bei vertrauten Menschen – nicht ins Unreine reden darf, warum sie festgelegt wird auf Aussagen, die schon Jahre zurückliegen, und auf Verhalten, das sie, unbemerkt von allen anderen, schon längst abgelegt und gegen ein anderes ausgetauscht hat. Sie kann nicht verstehen, dass niemand diese Veränderungen bemerkt, geschweige denn danach fragt.

      Sie kann nicht mitreden über Fernsehsendungen, und es interessiert sie auch nicht. Fußball ist ihr zuwider, selbst während der Weltmeisterschaften. Sie will nicht einsehen, warum sie Emotionen investieren soll in etwas, wovon sie keine Ahnung hat und auch keine Ahnung haben will. Sie würde niemals in einen Verein eintreten. Sie mag kein Fleisch und deswegen auch keine Grillpartys. Sie weiß nicht, warum sie auf Schokolade verzichten soll eines Schönheitsideals wegen, das Werbung, Mode und Zeitgeist ihr vorschreiben wollen. Als ihre Großmutter noch eine junge Frau war, galt es als schick, mollig zu sein. Manchmal denkt sie, in der falschen Zeit zu leben. Aber sie orientiert sich ungern an der Vergangenheit und möchte lieber eigene Erfahrungen sammeln. Sie liebt es, neue Gedanken zu denken, und bemerkt gleichzeitig den Schrecken der anderen, wenn sie sie ausspricht. Sie verabscheut die Worte »man« und »muss« und versteht nicht, warum sie eigene Gedanken und die der anderen nicht infrage stellen darf. Sie hasst Selbstverständlichkeiten und fremdauferlegte Verpflichtungen. Sie findet es schrecklich, Erwartungen entsprechen zu müssen, die sie nicht selbst an sich hat. Sie hält große Stücke auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung. Sie spürt Abwehr und schweigt, weil sie Ablehnung ahnt.

      Aber darin täuscht sie sich vielleicht. Sie traut sich nicht, es auszuprobieren. Beziehungen findet sie anstrengend.

      »Midlife-Krise«, murmelt sie, ohne dass es ihren Mann zu stören scheint. Er bewegt sich nicht einmal. Es ist, als wäre sie gar nicht da. Es könnte genauso gut eine Schaufensterpuppe neben ihm im Bett liegen. Oder abends neben ihm auf