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Hoffnungsmorgen


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      Jitzhak nickt: „Ich muss schon sagen: eine geniale Nacherzählung. Jeshua braucht dem Reichen keinen Namen zu geben, weil jeder weiß, dass es genau vier wirklich reiche Familien in Judäa gibt. Und eine davon ist die Sippe deines Schwiegervaters Hannas, und es gibt nur einen, der fünf Schwestern und deshalb fünf Brüder oder Schwäger hat – und das bist du. Er versetzt dich mit seiner Geschichte in das Totenreich, einen Mann, der an die Scheol gar nicht glaubt!“

      Jitzhak schüttelt fassungslos den Kopf. „Oh ja, eine echte Provokation!“

      „Du kannst dir vorstellen, dass ich getobt habe vor Wut, als man mir die Geschichte hinterbracht hat. Und Jeshua wusste genau, dass man sie mir erzählen würde! Er redet zu mir, ohne dass er mich aufsuchen muss. Indirekt. Seitdem wollte ich ihn nur noch loswerden. Sein Gefasel von dem Liebesgebot, das über allem stehen soll, klingt mir nicht mehr glaubwürdig. Wer einen Mann wie mich so bloßstellt, läuft mit einem großen Hass herum. Ich habe mich gefühlt, als ob ein Dolch durch mein Herz gestoßen würde. Und es war mir eine Genugtuung, als ich mein Gewand zerreißen und mein endgültiges Urteil über ihn sprechen konnte.“

      Jitzhak schweigt und versucht mit einem Zahnstocher, die Reste einer Fleischfaser zu entfernen, dann lehnt er sich zurück. „Ich verstehe, dass du wütend bist, Kajafas. Aber einen Menschen zum Tode zu verurteilen, nur weil er dich beleidigt hat?“

      „Oh nein“, sage ich, „das war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich bin schließlich der Hohepriester, der für das Wohl eines ganzen Volkes zuständig ist. Wir sind ein besetztes Land. Und so ein Naivling wie Jeshua gefährdet das delikate Machtverhältnis zwischen uns und Rom. Nein, nein, dieser Mann muss weg, und ich bin erleichtert, dass die Entscheidung gefallen ist.“

      Ich blicke meinem Freund in die Augen: „Fast bin ich froh, dass er mich provoziert hat, so fiel es mir leichter, mein Urteil zu fällen.“

      Jitzhak sagt nichts und trinkt nachdenklich einen Schluck. „Nur mal angenommen, Kajafas“, beginnt er. „Nur mal angenommen, es gibt tatsächlich ein Leben nach dem Tod …“

      Ich will schon ärgerlich aufspringen, aber Jitzhak hebt beruhigend seine Hände. „Nur ein Gedankenexperiment. Angenommen, du gelangst nach dem Tod in das Totenreich und merkst: Ich habe unseren eigenen Messias den Römern zur Kreuzigung ausgeliefert. Was für ein Urteil erwartet dich dann? Könnte es nicht sein, dass diese kleine Geschichte, die dich so aufregt, gar nicht dazu bestimmt war, dich zu demütigen?“

      „Sondern?“

      „Vielleicht war sie eine persönliche Botschaft an dich.“

      „Oh ja, die persönliche Botschaft habe ich verstanden: Ich werde dich vor aller Welt blamieren! Und: Sie haben Mose und die Propheten, lässt Jeshua Abraham sagen. Mit anderen Worten: Lieber Kajafas, nimm die Botschaft der Propheten ernst, nicht nur die fünf Bücher Mose. Ihr Sadduzäer seid engstirnig! Ja, das könnte die persönliche Botschaft an mich gewesen sein.“

      „Vergiss deine Wut, Kajafas! Nimm doch nur mal an, Jeshua hätte mit allem recht gehabt, er wäre der von Gott gesandte Messias, dann könnte selbst die Kreuzigung nichts daran ändern. Seit gestern gehen mir die Stellen bei Jesaja nicht mehr aus dem Kopf, die von einem geschlagenen Gottesknecht handeln … Und jetzt, nachdem ich weiß, dass er leiden wird, erst recht. Du weißt vermutlich, es gibt Schulen, die den Gottesknecht bei Jesaja mit unserem Messias gleichsetzen.“

      Ich bin verblüfft. Wie kann man diese Stellen, die ich zwar kenne, aber nicht anerkenne, mit Jeshua in Verbindung bringen? Wieder ein Beweis, dass die Prophetenbücher einen nur verwirren.

      Jitzhak fährt fort: „Ist diese Geschichte mit dem reichen Mann in der Scheol nicht eine Hoffnungsgeschichte?“

      „Warum?“

      „Hast du nicht erzählt, dass in der Version von Jeshua der Reiche im Totenreich mit seinen fünf Brüdern Mitleid bekommt und ihnen sagen will: Ändert euch, bevor es zu spät ist?“

      „Hm. Ja.“

      „Die persönliche Botschaft dieser Geschichte an dich könnte auch lauten: Kajafas, fang doch jetzt schon an, dein Leben zu ändern und die Menschen zu lieben, damit Abraham dich nach dem Tod in seine Nähe einlädt?“

      „Ach ja? Mich, der ich angeblich den Messias der Kreuzigung ausgeliefert habe?“

      „Hat Jeshua nicht immer wieder zur Umkehr aufgerufen?“

      „Jitzhak! Ich kann jetzt nicht mehr zurück!“ Wir schweigen, aber dann sage ich: „Weißt du, was du da von mir verlangst? Ich soll das, was ich jahrzehntelang geglaubt habe oder nicht geglaubt habe, aufgeben? Sollen denn Freud und Leid unendlich wiederholt werden in einer anderen Welt? Nein, ich finde es angemessen, wenn nach dem Tod die Vorstellung zu Ende ist. Eine Umkehr, wie du sie von mir verlangst … dazu fehlt mir die Kraft.“

      Jitzhak hebt wie zur Abwehr die Hände. „Ich verlange das ja nicht von dir, es ist Jeshua, der dir diese Nachricht sendet.“

      Ich werde ärgerlich. „Bist du seit neuestem ein Schüler dieses Gotteslästerers?“

      „Du weißt doch, ich habe eine Schwäche für ihn, mein Freund Nikodemus hat mir viel von ihm erzählt und …“

      „Auch so ein heimlicher Anhänger.“

      Jitzhak steht auf. „Ich sehe, du bist erschöpft. Ruhe dich aus. Überdenke noch mal alles!“

      Ich begleite ihn zur Tür, wir verabschieden uns.

      „Karim!“, rufe ich meinem syrischen Sklaven zu, „bereite mir ein Bad!“

      Es dauert immer etwas, bis das Wasser heiß gemacht wird, aber schließlich kann ich in mein gekacheltes Bassin steigen. Herrlich entspannend. Ich bin Gott dankbar, dass ich diesen Luxus habe. Die Verantwortung ist manchmal anstrengend.

      Während ich so daliege, geht mir das Gespräch mit Jitzhak nicht mehr aus dem Kopf:

      Nur mal angenommen, Jeshua hätte mit allem, was er sagte und tat, recht gehabt … Nur mal angenommen, es gibt nach dem Tod tatsächlich ein Weiterleben …

      Diese Gedanken sind beunruhigend. Wenn das stimmt, dann hätte ich alles falsch gemacht. Aber jetzt mal ehrlich: Kann jemand, der zum Hohepriester gewählt und von Gott bestätigt wurde, mit allem, was er sagt und tut, völlig falschliegen? Würde Gott nicht selbst darauf achten, dass sein Diener das Richtige tut?

      Das ist mein einziger Trost.

      Ich merke, wie ich müde werde, und rufe nach Karim.

      Während er mich abtrocknet und mir frische Kleider bringt, sagt er: „Vorhin hörte ich Geräusche draußen. Als ich hinausging, sah ich einen Bettler mit offenen Wunden vor deiner Tür liegen. Ein durch und durch abstoßender und unreiner Bursche. Was soll ich mit ihm machen?“

      Annekatrin Warnke

       verurteilt

      An meinen geliebten Neffen Pontius Marcus, es schreibt Pontius Pilatus, fünfter Statthalter der römischen Provinz Judäa.

      Lieber Marcus,

      dein Brief kam heute gerade recht. Seit gestern bin ich in düsterer Stimmung. Gesegnet sei deine spitze Feder! Der neueste Klatsch aus meinem geliebten Rom hat mich ein wenig aufgeheitert.

      Nun kann ich ja von deinen Sonnenstrahlen auf Papyrus nie genug bekommen. Sie wärmen mich schon einige Jahre in dieser unwirtlichsten und freudlosesten aller römischen Provinzen. Oft genug habe ich bei dir klagen dürfen, meinen Unmut ausdrücken können: Warum geht Rom nicht härter vor gegen dieses aufmüpfige Volk? Warum bin ich gehalten, mich mit den religiösen Autoritäten dieses unkultivierten Landes gutzustellen? Es ist demütigend, so tun zu müssen, als nähme ich diese heuchlerische oberste Priesterriege ernst …