Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung


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auf Raymond Williams versieht diese Gegenstandsbestimmung zunächst mit einem Vertrauensvorschuss (wir kommen darauf weiter unten zurück) – und tatsächlich scheint sie auf den ersten Blick einiges für sich zu haben: Theoretisch grundlegend zu klären, was man mit ›Kultur‹ im Unterschied zu Gesellschaft oder Lebensweise sagen möchte, wird man sich im empirisch ertragreichen Geschäft der vergleichenden ›Kulturen‹- oder Lebensweisenbeschreibung doch nicht zusätzlich aufladen wollen. Hat man nicht in der Lebensweise ein handfest-empirisch Gegebenes als soliden Forschungsgegenstand? Doch abgesehen von der »(unvermeidlichen) Selektivität in der Gegenstandswahl und ihrer Begründung« (Fluck 2004, 21) beschreibt keine Beschreibung je nur, jede wählt aus und deutet. Nachdem man Wittgensteins »Die Welt ist alles, was der Fall ist« gleichsam in »die Kultur ist alles, was Lebensweise ist« übersetzt hat, schlägt diese Entgrenzung die Beschreibung mit Blindheit für das, was sie wirklich tut. Denn da, wie Kant aufgezeigt hat, Anschauung ohne Begriffe blind wäre, öffnet diese Uferlosigkeit unthematisierten Begriffen die Tür, die bestimmte Dimensionen oder Momente der Lebenspraxis herausheben, andere Momente oder Zusammenhänge ausblenden. Eine Ahnung davon macht sich breit angesichts der Talkshow-Einladungen »zu Themen, die vom Osterhasen über urban legends bis hin zu den neuesten Stämmen der Postmoderne reichen« (Lindner 2000, 97). In der Regel ist es die Ideologie, die hinterm Rücken des gesunden Menschenverstands eintritt, falls man sich nicht einem momentan virulenten Theorieparadigma unterstellt, während die von Marx ins Bewusstsein gehobenen Mechanismen des Kapitalismus, der Klassengesellschaft und der ideologischen Herrschaftsreproduktion wie von selbst aus dem Blickfeld verschwinden.

      Oft fasst man Kultur dann mit einer dem Denken der Warengesellschaft besonders eingängigen Kategorie als »System von Werten«, ohne zu fragen, wie dieser Wertehimmel aus den irdischen Verhältnissen im Sinne »praktischer, also durch die Tat begründeter Verhältnisse« (Marx, 19/362) aufsteigt und sich als ideelle Entsprechung und Legitimation gesellschaftlicher Herrschaft verfestigt. Der Wertebegriff fasst das Resultat und verfehlt den Prozess, woraus es resultiert. Und was mehr ist, er artikuliert dieses Resultat in der Sprache der vom unmittelbaren Arbeitsprozess abgehobenen und ihm hierarchisch vorgesetzten Gesellschaftsschicht. Kurz, der Wertbegriff gehört der Herrschaftssprache an, die auf Grundlage der ›horizontalen‹ Arbeitsteilung die ›vertikale‹ Teilung zwischen »der materiellen und geistigen Arbeit«6 voraussetzt. Darin gründet, was man den strukturellen Idealismus der Klassengesellschaft selbst nennen kann.

      Als Gegenbewegung zu diesem strukturellen Kulturidealismus erscheint auf den ersten Blick die Hinwendung zur sogenannten »materiellen Kultur« (vgl. dazu das dritte Kapitel). Doch sie distanziert sich nicht so sehr von solchen und anderen Formen des Kulturidealismus, als dass sie sich als deren Ergänzung andient, wie ja auch ihr Name von dem der ›immateriellen Kultur‹ zehrt.7

      Was erfahre ich über die Sache ›Kultur‹ selbst, wenn ich eine Typologie der Kulturauffassungen aufstelle? Ich weiß nicht einmal, ob es eine solche Sache überhaupt gibt, und kann also ebenso wenig sicher sein, dass es sich lohnt, vom Kulturbegriff so viel Aufhebens zu machen. Zwar gibt es wohl keinerlei Sozialkategorie, deren Deutung unumstritten wäre. Auch über Ökonomie oder Staat oder selbst Klassengesellschaft sind kontroverse Auffassungen im Umlauf. Doch bei solchen handfesten Realitäten verhält es sich eher wie in dem Bild, das Leibniz gebraucht, um die Standortgebundenheit der einzelnen Sichtweisen mit der Leitvorstellung absoluter Wahrheit zu versöhnen, und zwar im Sinne einer Mit-Möglichkeit, compossibilité, einander bedingender Möglichkeiten: Es ist, als blickten die Einzelnen von unterschiedlichen Stellen auf eine Stadt – wir können ergänzen: mit unterschiedlichen Interessen. Von jedem Standpunkt und jeder Sichtweise zeigt sich etwas anderes, und doch zweifelt niemand an der Existenz der Stadt. Selbst wenn jemand etwa die Existenz der Klassenverhältnisse bestreitet, lugt das Verleugnete mitsamt dem Interesse an seiner Verleugnung aus deren fadenscheiniger Textur.

      Anders, bodenloser bei der ›Kultur‹. Sie scheint Wittgensteins resignierten Freibrief in Kraft zu setzen: »Ein Wort hat die Bedeutung, die jemand ihm gegeben hat.« (W 5, 52) Doch die Frage gibt keine Ruhe: Wieso gibt jemand dem Wort ›Kultur‹ diese oder jene Bedeutung? Welche interessierten oder bewusstlos ideologisierten Blickrichtungen sind da am Werk? Könnte es sein, dass es hier umgekehrt wie in der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern zugeht, wo die ›Gebildeten‹ ihren Kotau machen vor der wundermodischen Einkleidung der Herrschaft, bis ein ungebildetes Kind die einfache Wahrheit ausspricht: »Der Kaiser hat ja gar nichts an.« Könnte es sein, dass im vorliegenden Fall ›Kultur‹ nichts als eine ›diskursive Einkleidung‹ ist, in der nichts Substanzielles eigenen Rechts steckt? Oder gibt es für diesen Diskurs doch ein – trotz aller Verschiedenheit – gemeinsames Fundament in der Sache? Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir dann nicht unseren Klärungsversuch abbrechen?

      In dieser Sackgasse verspricht ein anderes von Wittgensteins Bildern uns zur Hand zu gehen, nämlich das von der »Familienähnlichkeit« (W 5, 37 u. 41). Auf dem Rückzug aus der Wesensmetaphysik räumt es Allgemeinbegriffen einen pragmatischen Status ein. Schauen wir uns das Bild näher an: Keine zwei Individuen einer Großfamilie sind einander vollkommen gleich, doch die einzelnen Züge streuen sich in immer neuen Kombinationen. Selbst zwei Individuen, die völlig unterschiedliche Züge haben, können jeweils einen Zug mit einem dritten Individuum gemein haben, das mit jedem der beiden zumindest einen seiner charakteristischen Züge teilt. Über diese dritte Person vermittelt sich dann die Familienzugehörigkeit der beiden ersten. Wittgenstein legt ein zweites Bild darüber, das Bild vom Spinnen eines Fadens, wobei wir »Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.« (Philos. Untersuchungen, §67, W 1, 278) Freilich lassen sich über solche vermittelnden Teilgemeinschaften die Grenzen des »Fadens« wie auch der »Familie« immer weiter hinausschieben, bis tendenziell Alles dazugehört. Das ist jedoch nur eine andere Weise zu sagen, dass keines mehr zu etwas Bestimmtem gehört.

      Oder trägt der Griff, der ein Allerlei als ›Kultur‹ zusammenfasst, die Handschrift des Staates oder einer der an ihn angelehnten Verwaltungen? »Die Zusammenfassung von so viel Ungleichnamigem wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten, schließlich dem objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur verrät vorweg den administrativen Blick, der all das, von oben her, sammelt, einteilt, abwägt, organisiert.« So sieht es Adorno in einem Essay von 1960, der zur Orientierung von Kulturredakteuren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gedacht war. Zugleich sieht er ›Kultur‹, »gerade nach deutschen Begriffen, der Verwaltung entgegengesetzt. Sie möchte das Höhere und Reinere sein, das, was nicht angetastet, nicht nach irgendwelchen taktischen oder technischen Erwägungen zurechtgestutzt ward.« Doch sieht er nur allzu deutlich, »wie sehr die hundertmal zu Recht kritisierte Kategorie der Welt wie sie ist, der verwalteten, verschworen und angemessen ist. Gleichwohl wird kein einigermaßen Empfindlicher das Unbehagen an der Kultur als einer verwalteten los.« (GS 8, 121f) – Wir sind gut beraten, wenn wir uns darauf einstellen, dass das kulturelle Feld nicht nur von Zweideutigkeiten dieser Art, sondern auch von einem vielfältigen Kräftemessen durchzogen, kurz: »ein Feld wuchernder Antagonismen« (Hall, AS 3, 151) ist. Machen wir uns auf ein Tauziehen gefasst, in dem alles verloren, nie alles gewonnen werden kann.

      Wir kommen auf diese unaufhebbare Ambivalenz zurück. Zuerst wenden wir uns der Frage der philosophischen Reflexion zu. Denn die philosophische Anthropologie reduziert Kultur keineswegs auf Lebensweise, zumal dann nicht, wenn sie das »Passwort Marx« entschlüsselt hat.

      Von den frühen Cultural Studies8 bekennt Stuart Hall (2008b), fehlende Deutschkenntnisse im Verein mit damals noch fehlenden Übersetzungen hätten den Zugang zumal zur deutschsprachigen kritisch-marxistischen Philosophie blockiert. So kam es, dass dieser neu aufbrechende Zweig der Kulturforschung sich als »Feld ohne Philosophie konstituierte«. Für Hall ist es »der verfehlte Moment in der Geschichte« und eine »wirkliche Schwäche«, die allerdings den Vorteil hatte, der Forschergruppe theoretische Spekulationen