Ingrid Stahn

Von Friedland in Ostpreußen an den Jakobsweg


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wo das Haus gestanden haben muss, indem Andrea geboren wurde. Ein Bachverlauf gab ihm die Orientierung. Für kurze Zeit hatten beide das Gefühl doch eine Vergangenheit gehabt zu haben, keine verlorenen Kinder zu sein.

      Die Geschwister waren dankbar, diese 50 Jahre der Vergangenheit mit der Gegenwart begegnen zu dürfen, das war ergreifend. Sie dachten an die Flucht, wie sie diese Jahre in der Erinnerung hatten. Hier am Ort des Geschehens war alles wieder in die Gegenwart gerückt. Nichts war vergessen, alles war in der Erinnerung geblieben, als sei es gestern erst gewesen, nach fünfzig Jahren erlebten sie ihre Flucht aus der Heimat wie in die Zeit zurück versetzt. Beide ergriff eine tiefe Sehnsucht nach diesem Land. Sie konnten die Verbundenheit mit diesem Platz der Erde deutlich spüren. War es Einbildung? Hier hatten sie den ersten Atemzug ihres Lebens geatmet. Alle Elemente der Natur hatten sie hier geeicht und lebensfähig gemacht. Waren das die Wurzeln ihres Lebens? Stecken sie noch in dieser Erde?

      Für einen Moment fühlten sie sich zu Hause, nie spürten sie das so deutlich wie in diesem Moment. Nie hatte ihnen der Aufenthalt an all den anderen Plätzen ihres Lebens dieses tiefe Gefühl von Heimat oder zu Hause sein gegeben. Sie wohnten irgendwo, wo sie sich ihr Leben eingerichtet hatten, aber zu Hause waren sie nie.

      Viele Tierarten kehren an den Ort ihrer Geburt zurück. Was stellt solche unsichtbaren Bande her?

      Erinnerungen an die Flucht

      Max musste für die Flucht im Schulranzen Speck und Brot tragen. Das Baby war inzwischen geboren und sechs Monate alt, sie hieß Sibylle, lag im Kinderwagen, ahnungslos, was für eine furchtbare Zeit jetzt auf sie alle zukommen würde.

      Die Mutter war bepackt mit einer Handtasche, in der sie Fotos, die Familiendokumente und die Todesurkunde vom Vater aufbewahrte. Jeder musste so viel Kleidung wie möglich anziehen, der Winter hatte begonnen, aber sein härtestes Gesicht hatte er noch nicht gezeigt, das sollten alle erst in den nächsten Wochen spüren. Sie konnten nicht viel Gepäck mitnehmen, was nicht angezogen werden konnte, musste zu Hause bleiben. Die Mutter hatte die drei Kinder als „Gepäck” und konnte nichts mehr schleppen. Wenn noch etwas getragen wurde, dann war es etwas zu Essen oder für die Versorgung des Babys notwendig.

      Andrea wurde immer wieder an den Griff des Kinderwagens gepresst, in dem Sibylle lag. „Festhalten”, sagte die Mutter, „damit du uns nicht verloren gehst.” Sie liefen tags im Flüchtlingstreck, der sich kilometerlang von Ost Richtung West durch die Gegend zog.

      Nachts wurden sie in Sammelstellen untergebracht, wo Tee und Zwieback, oder Suppe ausgeteilt wurde. Sie schliefen auf Stroh, die Decken gab es vom Roten Kreuz oder vom Militär.

      An den Wegrändern lagen Leichen und Tierkadaver … Bei über 20 Grad Minus waren die Toten steif gefroren. Manche von ihnen hatten einen Arm durch Frost oder Leichenstarre in die Höhe gestreckt, als wollen sie mit einem letzten Gruß noch winken. In furchterregenden Positionen waren sie teilweise vom Schnee bedeckt, so dass nur ein herausragendes Körperteil den Toten zeigte. Verendete Pferde und Hunde säumten die Wege des Flüchtlingstrecks, deren Kadaver oft angefressen oder aufgefressen waren. Die Flüchtlingstrecks zogen an ihnen vorbei, wie an Kilometersteinen. Die Toten konnten nicht beerdigt werden, der wochenlange Frost hatte den Boden zu Stein gefroren, dazu kamen die herannahenden russischen Truppen, deren Geschosse die Flüchtlinge schon fast neben sich spürten. Das ließ keinen langen Abschied zu.

      Der Gauleiter Ostpreußens, Erich Koch, hatte die Räumung Ostpreußens verboten. So konnten große Teile der Bevölkerung nicht rechtzeitig vor der Kriegsfront in Sicherheit gebracht werden und ein geordneter Rückzug stattfinden. Erst spät, fast zu spät, traute sich die Bevölkerung den Weg der Flucht anzutreten, vor allem, als bekannt wurde, dass der Gauleiter Koch sich selbst bereits in Sicherheit gebracht hatte. Koch hatte der Bevölkerung Strafe angedroht, für ein Verlassen der Heimat aus Angst vor der Kriegsfront. So ballten sich die Flüchtlingstrecks zu spät und die Flucht verschärfte sich dramatisch in den letzten Wochen des Jahres 1944 zur Evakuierung. Als die sowjetischen Truppen den Landweg noch durch weiträumige Umfassung von Süden her abschnitten, brach für die Flüchtlinge eine hoffnungslose, ungeordnete Flucht an.

      Die Flüchtlinge wurden erst auf dem Landweg westlich getrieben. Sie waren zu Fuß, oder mit einem Handwagen, auf dem das nötigste Gepäck liegen konnte, oder mit dem Pferdegespann unterwegs. Andreas Mutter musste mit ihren Kindern diesen Marsch zu Fuß gehen. Das Ziel war Danzig, denn von hier hatten sie die Hoffnung mit einem Schiff schneller von der Kriegsfront Ostpreußen wegzukommen. Dann wurden die Flüchtlinge jedoch entgegengesetzt, wieder nord-östlich auf dem Landweg von deutschen Soldaten flankiert getrieben, Richtung Pillau, da der Landweg nach Danzig durch die Fronteinkreisung von Süden bereits abgeschnitten war. So wurden die Flüchtlinge auf den langen Marsch wieder Richtung Osten über das Frische Haff gelenkt. Von Pillau konnten noch viele Flüchtlinge auf dem Seeweg nach Danzig oder Gotenhafen gebracht werden. Nördlich von Heiligenbeil mussten die Flüchtlinge auf dem Eis der Ostsee das Frische Haff überqueren, um auf der kleinen Landzunge, die” Frischen Nehrung” genannt, Pillau zu erreichen. Es war ein langer und grausamer Marsch, wochenlang zu Fuß bei Minus 20°Grad. Die kilometerlangen Märsche ohne Nahrung und ohne Getränke, laugten die Flüchtlinge aus. Sie wurden kraftlos und erschöpft. Die Kinder konnten oft nur mit Drohungen und Angst zum Weiterlaufen getrieben werden. Ihre Kleidung konnte sie vor dieser dauerhaften Kälte nicht mehr schützen. Ihre Glieder, die Nase und die Ohren waren gefühllos vor Kälte oder schmerzten erbärmlich. Sie mussten oft den ganzen Tag marschieren, ehe sie sich einmal hinsetzen oder legen konnten. Die Wangen von Max fielen jeden Tag tiefer ein, seine Gesichtsknochen traten heraus, sein Körper wurde so mager, dass die Mutter ihn jeden Tag ängstlich betrachtete, mit der stillen Frage: Wird er morgen noch leben? Die Vorstellung, dieses Kind eventuell auf diesem Marsch zu verlieren, ließ sie fast verrückt werden. Die Ohnmacht und Hilflosigkeit, in die sie als Flüchtlinge gezwungen wurden, nahm ihr den Lebenswillen. Nur der Wunsch, den Kindern das Überleben zu ermöglichen, gab ihr immer wieder ein wenig Kraft, um durchzuhalten. Jeder Tag begann mit der bangen Frage: Haben wir heute Nacht eine geschützte Unterkunft, oder werden wir im Freien erfrieren? Bisher waren es Scheunen, Schulen oder aufgestellte Zelte, in denen sie vor der Nacht Schutz erhielten. Auf ausgelegtem Stroh, manchmal auch eine Decke zum Zudecken für die Nacht, ließ sie wieder Kraft schöpfen, für den nächsten grausamen Tag. In den Unterkünften, wenn die Menschen etwas zur Ruhe kamen, spielten sich dann tragische und elende Geschehen ab, die am Tag von den Flüchtlingen nicht zugelassen werden konnten. Sie trauerten laut und jammernd um ihre verlorenen Angehörigen, sie stöhnten und schrien vor Schmerzen durch Erfrierung, Krankheit und Elend, manche drehten auch einfach nervlich durch, weil sie das Elend nicht mehr ertragen konnten.

      Baby Sybille wurde zusehend apathischer, es gab für sie keine Nahrung, nur ein bisschen Tee und Zwieback. Sie konnte unterwegs nicht gesäubert werden und lag in ihrem Kot und Urin. Ihr Kinderwagen war mit dem nassen Bett durch ihren Urin bei der klirrenden Kälte kein Schutz mehr, das Bett war zu Eis gefroren und hielt ihre Körperwärme nicht mehr schützend im Bett. Andreas Mutter musste hilflos zusehen, wie ihr Kind langsam starb. Eigentlich hätte sie auch gerne ihr Elend heraus geschrien und geweint, wie es so viele taten.

      Als die Familie hinter Heiligenbeil das Eis der frischen Nehrung betrat, war Sybille bereits tot. Sie war verhungert und erfroren. Ganz langsam nahm ihr das wochenlange Elend und die klirrende Kälte täglich ein Stück von ihrem jungen und hoffnungsvollen Leben.

      Das Flüchtlingselend wurde auf dem Eis noch größer und lebensgefährlicher. Die kilometerlangen Trecks der Flüchtlinge hatten auf dem Eis gefährliche Furchen geschaffen. Während die Flüchtlinge auf dem Landweg schon mit dem erschreckenden und grausamen Anblick von Verstorbenen (überwiegend Kinder und alte Menschen) und Tierkadaver fertig werden mussten, so war das Eis ein perfektes Bild an Grausamkeit und Unbarmherzigkeit. In Abständen flogen russische Tiefflieger Angriffe auf die Flüchtlinge. Die Flüchtlingskolonnen waren auf dem weißen Eis, ohne jede Möglichkeit einer Deckung ein gutes Ziel. Sie wurden mehrmals am Tag durch diese Tiefflieger beschossen. Wehrlos und als Zielscheibe ausgeliefert, wurden die Menschen und ihre Pferde von den Flugzeugen beschossen, das Eis durch Bomben gesprengt. Pferdegespanne, ganze Panjewagen, beladen mit dem Hab und Gut der Flüchtenden, brachen durch das morsch