mit Magen, Darm und Galle, denn an den Weihnachtsfeiertagen hatte man zu fett gegessen und zu Silvester zu viel getrunken.
Kaum hatte Kußmaul den letzten Kranken versorgt, sagte er seiner Frau für ein Stündchen adieu und machte sich auf den Weg zu Gontard. Er hätte eine Droschke nehmen können, aber er wusste, wie gut ihm gerade nach diesen anstrengenden Stunden in der Praxis ein wenig Bewegung tun würde. Außerdem mochte er es, die Leipziger Straße entlangzugehen, gab es dort doch immer etwas zu entdecken, und man traf bisweilen auf Mitbürger, die in der Stadt eine gewisse Reputation genossen. So war Adolf Glaßbrenner hier zur Welt gekommen, und im Haus No. 3 hatte die Familie Abraham Mendelssohn Bartholdy schon seit einem Vierteljahrhundert ihren Wohnsitz. Auch die Friedrichstraße konnte mit einigen berühmten Anwohnern glänzen, zum Beispiel Alexander von Humboldt. Von Napoleon Bonaparte hieß es, er habe 1806 mit drei Begleitern im Haus der Madame Bernhard eine vergnügliche Nacht verbracht.
»Gehe ich durch die Berliner Straßen, so ist es, als würde ich in einem selbstgeschriebenen Roman lesen«, behauptete Kußmaul immer wieder, um zu verdeutlichen, dass er die preußische Residenzstadt kannte wie seine Westentasche.
Als er am Haus seines Freundes in der Dorotheenstraße angekommen war, trat Criminal-Commissarius Waldemar Werpel gerade aus der Haustür heraus und winkte ihm zu. »Gut, dass Sie kommen, Herr Doktor! Gontards Bursche wurde umgebracht.«
Kußmaul stürmte in den Hausflur und drängte alle beiseite, die sich um Quappe versammelt hatten. Henriette von Gontard wischte dem Burschen gerade das Blut von der Stirn. Der Doktor kniete sich daneben, zog einen kleinen Taschenspiegel hervor und hielt ihn Quappe vor den Mund. Dann fühlte er den Puls.
»Der lebt noch«, stellte Kußmaul schließlich fest. »Er muss einen Schlag auf den Kopf bekommen haben und ohnmächtig geworden sein. Legt ihn auf das Sofa! Wenn ich seine Wunde säubere und nähe, wird er schon wieder zu sich kommen.«
So geschah es, und Paul Quappe konnte nach einiger Zeit berichten, dass er bei der Rückkehr vom Schneider einen Einbrecher überrascht habe und von diesem mit einer Keule niedergeschlagen worden sei.
Charles Corduans Vorfahren gehörten zu den zwanzigtausend Hugenotten, die nach dem Edikt von Potsdam, das der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg am 29. Oktober 1685 erlassen hatte, nach Brandenburg-Preußen gekommen waren. Sie hatten einige Schwierigkeiten gehabt, in Berlin Fuß zu fassen, denn Hof, Adel und die geistige Elite hatten die Hugenotten zwar freudig begrüßt, galt doch das Französische als Maß der Hochkultur, die einfachen Berliner aber hatten sie abgelehnt. Sie verstanden die Sprache der Hugenotten nicht, und die Franzosen waren ihnen zu wesensfremd. Die Nachkommen der Einwanderer wurden jedoch inzwischen akzeptiert, und in vielen Berufen waren die französischstämmigen Berliner sehr erfolgreich, insbesondere im Textilgewerbe sowie bei den Confituries, Pâtissiers und Cafetiers.
Corduan war Kürschner und hatte sein Geschäft in der Jägerstraße, unweit der Friedrichstraße. Seine Frau war vor Jahren gestorben. Nun besorgte ihm eine Magd, Susanna, den Haushalt. Außerdem war seine Nichte Caroline zur Stelle, wenn dringend etwas erledigt werden musste. Zwei Gesellen halfen ihm bei der Arbeit.
Der eine war gerade dabei, Galonleder mit dem Kürschnermesser zuzuschneiden, der andere hatte den Grotzenstecher in die Hand genommen, um die Fellmitte, den Grotzen, anzuzeichnen, als Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard in den Laden trat. Charles Corduan selbst war so darin vertieft, ein Fell auf eine hölzerne Unterlage zu nageln, dass er ihn gar nicht bemerkte.
»Bonsoir, Maître, ne vous laissez pas interférer avec le travail!«, sagte Gontard, um auf sich aufmerksam zu machen.
Der Kürschnermeister konnte das Gesagte zwar verstehen, sprach aber selbst kaum noch Französisch, so dass er Gontard auf Deutsch antwortete. »Von Ihnen lasse ich mich gern bei der Arbeit stören, denn Sie sind bestimmt gekommen, um sich einen neuen Pelz zu kaufen.«
»Es hat sich wohl schon herumgesprochen, dass bei mir eingebrochen wurde und man mir einiges gestohlen hat, darunter auch meinen Pelzmantel.« Gontard lachte. »Dann waren Sie das also, damit Ihr Umsatz ordentlich in die Höhe schnellt.«
»Sie haben mich ertappt! Aber das eigentlich Empörende ist, dass ich Ihnen jetzt Ihren Pelz als angeblich nagelneues Stück zum zweiten Mal verkaufe.«
Gontard wurde ernst. »Was können Sie mir empfehlen?«, fragte er.
»Grundsätzlich würde ich zu einem Tier raten, das vollständig oder zumindest zeitweilig im Wasser lebt, weil dann das Fell besonders üppig und strapazierfähig ist. Ferner gilt, dass der Pelz umso dichter und seidiger wird, je kälter der Lebensraum des Tieres ist. Mit Winterfellen liegen sie immer richtig.«
Gontard lachte. »Mit einem Eisbärenfell durch Berlin zu laufen, fände ich für meine Reputation nicht eben förderlich.«
»Dann dürften auch Maulwurf, Nasenbär oder Waschbär für Sie nicht in Frage kommen.«
»So ist es.«
Charles Corduan zeigte auf einige fertige Exemplare. »Hier haben wir einen Mantel aus russischem Desmanfell.«
»Was ist ein Desman?«, wollte Gontard wissen.
»Ein Tier, so groß wie ein Hamster.«
»Nein danke.«
»Aber dies wäre etwas für Sie, Herr von Gontard: ein Stück, fein und seidig, genäht aus Fellen von Edelmardern. Bewundern Sie mit mir dieses glänzende Braun mit seinen Übergängen zu Nuss und Kastanie!«
Wieder winkte Gontard ab. »Das wäre eher etwas für meine Frau.«
Charles Corduan war ein geschickter Verkäufer und wusste sich zu steigern. »Wie wäre es mit dem herrlichen Fell eines Kodiakbären?«
»Wunderbar!« Gontard war begeistert. »Das wird mein neuer Pelzmantel. Fangen Sie bitte sofort damit an! Ich lasse ihn mir auch einiges kosten.«
Corduan verbeugte sich. »Sehr gern.«
Ernst Curtius hatte sich als Hauslehrer des Prinzen Friedrich Wilhelm, des späteren Kaisers Friedrich III., und als außerordentlicher Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität einen Namen gemacht. Am 10. Januar 1852, einem Sonnabend, wollte er in der Sing-Akademie einen Vortrag über das antike Olympia halten. Gontard und Kußmaul saßen in der Dorotheenstraße beisammen und überlegten, ob sie sich den Beitrag anhören sollten.
»Eigentlich hatte ich Henriette versprochen, mit ihr Schach zu spielen«, sagte Gontard.
»Und ich wollte mit meiner Frau ins Konzert gehen«, fügte Kußmaul hinzu. »Aber Olympia ist ein wichtiges Thema. Stell dir vor, wir bekommen die Olympischen Spiele der Antike zurück und unsere Jugend übt fleißig, um den Lorbeerkranz des Siegers zu erringen. Du weißt, was das für Preußen bedeuten könnte?«
»Ja, wir würden an die Ideen unseres Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn anknüpfen, und die Menschen würden fleißig ihren Leib trainieren.«
»Genau. Ich hätte weniger Kranke in der Praxis, und du verfügtest über Soldaten, die in zukünftigen Kriegen – und es sind etliche zu erwarten – mit mehr Ausdauer kämpfen könnten.«
»Was schließen wir daraus? Es sei mit der Diskussion nun Schluss, / auf zu Herrn Curtius! So würde dessen Freund Emanuel Geibel bestimmt reimen.«
»Gut. Auch der König soll zugegen sein.«
Die Sing-Akademie hatte seit 1827 ein eigenes Konzertgebäude am Festungsgraben, so dass sie es von der Dorotheenstraße aus nicht weit hatten. Als Gontard und Kußmaul ins Foyer traten, kam ihnen der Theaterdichter Ernst Raupach mit seiner Frau entgegen. Gontard erschrak, denn der Schöpfer des Hohenstaufen-Zyklus sah ziemlich elend aus und hustete so sehr, dass die Umstehenden zurückwichen.
»Die Lunge«, erklärte Raupach, als sie sich begrüßt hatten.
»Wenn er doch nur meinem Rat folgen und sich schonen würde!«, seufzte seine Frau. »Tag und Nacht sitzt er an seinem neuen Stück. Es heißt Die Giftmischerin.«
Gontard