Stephan Hähnel

Geschwisterliebe


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Sicher, er liebte seinen Beruf, doch all die Verbrechen, mit denen er in seinem langen Berufsleben konfrontiert worden war, wirkten wie eine Bleivergiftung. Die Tote von Nikolskoe glich dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

      Ein Förster hatte die Überreste der jungen Frau, die im Unterholz des Düppeler Forstes versteckt worden waren, gefunden. Einen Tag später hatte Kriminalrat Keunitz den Fall Kappe und seinen Kollegen übertragen. Kappe hatte als Erstes mit dem Mann gesprochen, der den Fund gemeldet hatte. Genau genommen war Trotzki, der Dackel des Försters, der Entdecker der Leiche. Der Waldhüter gab zu Protokoll, dass er gerade die Überprüfung eines Spätbrutplatzes der vom Aussterben bedrohten Schleiereule abgeschlossen hatte und auf dem Rückweg gewesen war, als sein Hund sich aufgeregt gebärdet habe. Er habe einen Augenblick zu spät reagiert, aber schon geahnt, dass etwas nicht stimmte. Trotzki sei unruhig um einen Stapel Holz herumgerannt und habe herzzerreißend gejault. Genüsslich habe er dann seinen Oberkörper über etwas Undefinierbarem gewälzt. Für den Förster ein klares Zeichen dafür, dass unter dem Gestrüpp Verwesendes lag. Weiterhin hatte er zu Protokoll gegeben, dass alle Versuche, den Hund zum Einhalten zu bringen, erfolglos gewesen waren. «Trotzki hat sich aufduften wollen, um seinen Eigengeruch zu kaschieren. Die Ausdünstungen von madenzerfressenem Fleisch sind für Hunde so etwas wie Chanel No. 5.» Kappe erinnerte sich noch genau an die Worte des Försters. Erst dann sei dem Mann klar geworden, dass er die Überreste eines Menschen vor sich hatte. Geschockt sei er zurückgewichen, habe aber wahrgenommen, dass der Körper in einem bunten Kleid steckte.

      Bei der stark verwesten Leiche handelte es sich um eine junge Frau, Mitte oder Ende zwanzig, mit mittellangen brünetten Haaren, zirka 1,72 Meter groß. Besondere Kennzeichen: keine. Ihr Kleid stammte von C & A und war schon seit einigen Jahren aus der Mode. Dennoch hatte Kappe prüfen lassen, wer dieses Modell produziert hatte, wo es hergestellt und wohin es geliefert worden war. Alle Filialen in West-Berlin und im Bundesgebiet schienen es im Sortiment zu haben. Auch die einschlägigen Versandhäuser. Fast war es Kappe so vorgekommen, als besäße jede modisch bewusste Frau ein Sommerkleid dieser Art.

      Das Opfer war erschlagen worden. Das Gerichtsmedizinische Institut im Krankenhaus Moabit hatte eindeutig eine tödliche Verletzung am Schädel nachgewiesen. Der Schlag war mit einem spitzen Gegenstand, einem kleinen Hammer, einem handlichen Eispickel oder etwas Ähnlichem, ausgeübt worden und hatte das Schläfenbein im oberen Bereich zerstört. Wahrscheinlich war der Tod nicht sofort eingetreten. Laut Bericht war entweder ein Blutgefäß, vermutlich die Arteria meningea media, getroffen worden, sodass das Opfer verblutet war, oder es hatte eine durch den Schlag bedingte Gehirnverletzung zum Tod geführt. Der Zeitpunkt der Ermordung lag laut dem verantwortlichen Gerichtsmediziner Dr. Konrad König zwischen Anfang November 1968 und Ende Februar des vergangenen Jahres. Eine genauere Eingrenzung des Zeitpunkts war wegen des Zustands der Leiche und der witterungsbedingten Einflüsse nicht möglich gewesen. Aufgrund des harten Winters 1968 / 69, der als sonnenscheinärmster seit Beginn regelmäßiger Wetteraufzeichnungen galt, war der Verwesungsprozess nur langsam vorangeschritten und die Tote sozusagen bis zum Frühjahr auf Eis gelegt gewesen. Daher die Ungenauigkeit. Noch im März hatte man in Dahlem eine Schneehöhe von 52 Zentimetern gemessen, in Potsdam waren es sogar 70 Zentimeter – Werte, wie man sie zu dieser Jahreszeit noch nie registriert hatte. Die warmen Monate von April bis August hatten den Verwesungsprozess dann aber beschleunigt. Die Tatsache, dass die Tote zum Zeitpunkt ihrer Ermordung ein Sommerkleid getragen hatte, passte nicht zum prognostizierten Todeszeitpunkt und hatte daher für einige Spekulationen gesorgt. Inzwischen glaubte Kappe fest daran, dass der Täter dem Opfer die Kleidung angezogen hatte. Nur warum, war ihm ein Rätsel.

      Als die Leiche im September 1969 gefunden worden war, war ihre Verwesung so weit fortgeschritten, dass weder Gesicht noch Fingerabdrücke Auskunft über ihre Identität hätten geben können. Dr. König hatte bei der Obduktion eine chirurgische Schraube gefunden, die auf eine komplizierte Hüftoperation hinwies. Zweifelsfrei musste die junge Frau vor ein paar Jahren einen Unfall erlitten haben, höchstwahrscheinlich einen Autounfall. Da das rechte Bein seitdem etwas kürzer war, ging der Gerichtsmediziner davon aus, dass sie gehinkt hatte. Das gefundene medizinische Implantat wurde seit Jahren in westdeutschen und West-Berliner Operationssälen verwendet. Doch trotz der klar umrissenen Diagnose und der Röntgenbilder des längst verheilten Bruchs fand sich kein Krankenhaus, das eine Patientin mit einer derartigen raktur behandelt hatte. Die Befragungen der Mitarbeiter des Wirtshauses Moorlake, des Blockhauses Nikolskoe und des Restaurants Pfaueninsel an dem Fähranleger brachten ebenfalls keine Erkenntnisse. Und der Ordner mit den Vermisstenmeldungen half auch nicht weiter. Selbst die Nachforschungen bei Interpol verliefen ergebnislos. Niemand schien die Frau zu vermissen. Nach sechs erfolglosen Monaten hatte Keunitz schließlich die Anweisung gegeben, die Akte vorerst im Fach für nasse Fische verschwinden zu lassen. Ein weiterer Fall, der auf eine geniale kriminalistische Eingebung oder einen Zufall wartete. Seitdem ruhte die Unbekannte auf dem Friedhof Schöneberg. Der kleine Stein am Kopf des Grabes trug nur eine Nummer.

      Dass der Verfassungsschutz die Tote nun mit Wilfried von Thalmann in Zusammenhang brachte, war kein Zufall, das wusste Kappe. Man hatte einem blinden Huhn ein Korn zugeworfen.

      Am Nachmittag kehrte Otto Kappe in sein Büro zurück. Auf seinem Schreibtisch fand er eine schmale Akte, einen kurzen Bericht über Wilfried von Thalmann, geborener Böttcher. Galgenberg hatte die Unterlagen wie immer akkurat zusammengetragen. Daneben lag ein Zettel: Bin in der Stadtbibliothek, Zeitschriften schmökern. Und dann ist Wochenende!

      Kappe wusste, am Montag würde sein Kollege eine erlesene Sammlung von Zeitungsartikeln vorlegen, denen eines gemeinsam sein würde: Sie würden reißerisch über Wilfried von Thalmann berichten. Neugierig nahm er die Akte in die Hand und begann zu lesen.

      Wilfried Böttcher, 1935 in Guben geboren, lebte seit 1955 in West-Berlin. 1962 war er als 26-Jähriger von Nora von Thalmann adoptiert worden. Es folgten Angaben über seinen Wohnort in Alt-Lübars und das Register seiner Straftaten. Otto Kappe überflog die Liste kleinkrimineller Vergehen: Diebstahl, Hehlerei, Betrug, Körperverletzung … Das war nichts Besonderes, auffällig erschien ihm nur, dass keines der eingetragenen Delikte direkt mit Fluchthilfe in Verbindung stand. Lediglich ein Eintrag aus dem letzten Jahr deutete auf ein Passvergehen oder etwas Ähnliches hin. Es hieß, dass gegen Thalmann Ermittlungen wegen Urkundenfälschung eingeleitet worden seien. Allerdings waren die Untersuchungen wegen Geringfügigkeit eingestellt worden.

      Strafrechtlich ließ sich Wilfried von Thalmann nicht beikommen. Es bedurfte weiterer Informationen. Wenn der Verfassungsschutz seine Finger im Spiel hatte, musste er mehr über den schönen Willi wissen. Kappe erinnerte sich, von einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gehört zu haben, der Kontakt zur Fluchthelferszene hielt. Glaubte man den Gerüchten, leitete dieser nicht nur relevante Informationen, sondern auch Geld, das er von dritter Seite erhielt, an die einzelnen Fluchthelfergruppen weiter. Der Mann agierte unter einem Decknamen. Wenn Kappe seinem Gedächtnis vertrauen durfte, lautete dieser Merlin.

      Otto Kappe nahm den Telefonhörer zur Hand und ließ sich zu Kriminalrat Keunitz durchstellen. Sein Vorgesetzter wollte, dass er Dreck aufwirbelte, also musste er ihm auch das nötige Werkzeug zukommen lassen.

       VIER

       Sonnabend, 20. Juni 1970

      MAJOR GERALD SCHWARZ machte es sich so bequem wie möglich auf dem durchgesessenen Sofa in der Dunckerstraße, zweiter Hof, Seitenflügel, in Prenzlauer Berg. Die Wohnung im fünften Stock des heruntergekommenen Hauses lag direkt unter dem Dach, war schlicht eingerichtet und existierte offiziell nicht im Register des Amtes für Wohnungswesen in Ost-Berlin. Zuweilen schliefen hier Personen, die im Auftrag der Staatssicherheit handelten. Dass die Wohnung für konspirative Zwecke genutzt wurde, wussten die Bewohner, dennoch schwiegen sie. Niemand hatte das Bedürfnis, auf sich aufmerksam zu machen oder wegen allzu offensichtlicher Neugier ins Fadenkreuz von Horch und Guck zu geraten. Bekamen Bewohner des Hauses Besuch, wurde dieser ordnungsgemäß im Hausbuch eingetragen.

      Major Schwarz blätterte in dem Buch und prüfte all jene Personen, die länger als drei Tage zu Besuch in der DDR waren. Er studierte den Namen, das Geburtsdatum, die Staatsbürgerschaft,