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Erster Teil
Der alltägliche Schrecken
Kapitel 1
Emmi Borowka kam von der Spätschicht und fuhr mit der S-Bahn nach Hause. Nein, nicht nach Hause, sondern in die Laube am Rande der Stadt. Ihr Zuhause lag seit dem 29. August in Schutt und Asche. Als Vergeltungsschlag für die deutschen Luftangriffe auf London hatte die Royal Air Force Bomben auf Berlin geworfen. Drei Stunden lang hatten sie in der Skalitzer Straße im Luftschutzkeller gesessen. Zum Glück war sie nicht verschüttet gewesen. Zwölf Tote und 28 Verletzte hatte man am nächsten Morgen gezählt.
Es war die Strecke nach Erkner, die sie nun jeden Tag benutzen musste. Ostkreuz, Rummelsburg, Betriebsbahnhof Rummelsburg, Karlshorst, Wuhlheide, Köpenick, Hirschgarten, Friedrichshagen, Rahnsdorf, Wilhelmshagen und Erkner. An sich ihre Lieblingsstrecke. Nicht nur, weil Albert hier als Triebwagenführer jeden Tag den Dienst versah. Früher waren sie fast jeden Sonntag am Bahnhof Warschauer Straße in die S-Bahn gestiegen, die ganze Familie. Dann ging es nach Rahnsdorf zum Baden, nach Wilhelmshagen zum Pilzesammeln und nach Erkner, um auf der Löcknitz zu paddeln.
Früher, vor ’33, vor dem Krieg. Nur wenige Jahre lagen dazwischen und dennoch Ewigkeiten.
Ostkreuz. Alles war verdunkelt, wie bei einem Stromausfall. Mal ein blaues Lämpchen, mal eine Funzel. Die britischen Bomber sollten nicht erkennen, wo sie sich befanden.
Emmi war müde. Sie war es nicht gewohnt, in der Fabrik zu arbeiten. Die ganze Schicht über an der Stanze. Erstens: nach links bücken und den Rohling aus der Kiste nehmen. Zweitens: den Rohling unter die Stanze legen und genauestens ausrichten. Drittens: die Hände weit auseinander auf zwei tassengroße blanke Knöpfe legen und diese kräftig drücken. Viertens: abwarten, bis die zentnerschwere Hydraulikpresse nach unten gedonnert war. Fünftens: das nun fertig gestanzte Teil aus der Maschine nehmen und rechts unten in eine andere Kiste werfen. Alles sehr sorgfältig und zehn Stunden am Tag. Waffen für die Männer im Feld. Um Russen und Engländer zu töten.
Emmi dachte an ihren Vater. Ab und an besuchte sie ihn kurz vor Schichtbeginn noch schnell. Gestern hatte er im Sportpalast Hitler und Goebbels sprechen hören. Zur Eröffnung des Kriegs-Winterhilfswerks. »Weißt du, was Goebbels gesagt hat?«
»Nein …«
»Jeder Volksgenosse, ob arm oder wohlhabend, wird seinen Beitrag leisten, damit die Welt sieht: Dieses Reich der Deutschen ist unüberwindlich!«
»So wie unsere Flugabwehr … Als die englischen Bomben unsere Wohnung …«
Zu diesem Thema, den ›Tommis‹, hätte sie mal den Führer hören sollen: »Wenn sie erklären, sie werden unsere Städte in großem Ausmaß angreifen – wir werden ihre Städte ausradieren!«
Rummelsburg. Emmi schreckte hoch. Noch immer brachte sie das durcheinander.
Dass erst nur Rummelsburg kam und dann der Betriebsbahnhof Rummelsburg. Sie war froh, noch nicht aussteigen zu müssen. Hier in der S-Bahn fühlte sie sich sicher, der Schrecken für sie begann erst, wenn sie in das Labyrinth der Lauben musste. Sie hoffte aber noch, eine Nachbarin zu treffen, mit der sich zumindest eine Strecke Wegs gemeinsam gehen ließ.
Dass Männer ihre Frauen abholten, kam kaum noch vor. Die saßen alle in den Kasernen oder standen im Feld.
Bis auf den einen, der die Kolonien Gutland I und II schon seit 1938 in Angst und Schrecken versetzte. Wie ein Tier hockte er irgendwo in einer Hecke und wartete auf seine Beute. Plötzlich stand er da, aufgetaucht aus dem schwarzen Nichts, und sprach die Frauen an. Ob sie mit ihm ausgehen wollten. Nein. Da fiel er dann über sie her. Getötet hatte er noch keine. Aber alle warteten darauf, dass es geschah.
Die Polizei tat ihrer Meinung nach wenig bis nichts dagegen und alles sehr leise. Im nationalsozialistischen Staat konnte so etwas nicht sein, weil es nicht sein durfte.
Immerhin hatte sie letzte Woche beim NSV-Amtswalter Wenzke eine Liste gesehen, auf der alles stand, was es hier im Laubengelände bisher an schweren Straftaten gegeben hatte (neben den über zwanzig anderen Sittlichkeitsverbrechen von der versuchten bis zur vollendeten Vergewaltigung):
1. Mordversuch Budzinski, 13. 8. 39, 2 Uhr nachts. Wurde von Mann verfolgt. Dieser musste sehr gelaufen sein, denn als er in ihre Nähe kam, keuchte er. Als sie im Garten stand, Schlag über den Kopf. Im Liegen 2 Messerstiche in den Rücken.
2. Mordversuch Jablinski, 14. 12. 39, 1.15 Uhr. Merkte, dass sie verfolgt wurde, begann zu laufen. Verfolger setzte sich in Trab. Erhielt 4 Messerstiche (3 Gegend des Ohrs, 1 Hals). Schrie auf, Täter floh.
3. Mordversuch Nieswandt, 27. 7. 40, 1.30 Uhr. Opfer begab sich zur Laube. Wurde von Täter angesprochen. Opfer drohte zu schreien. Täter drückte ihr Tuch vor das Gesicht. Stiche mit Taschenmesser (Hals Nähe Schlagader, Oberschenkel direkt neben Schlagader). Täter floh.
4. Mordversuch Schuhmacher, 21. 8. 40, 23.10 Uhr. Mit Taschenlampe geblendet kurz vor Tunnel Zobtener Stra ße. Kein Wort. Schlug Frau mit Gegenstand bewusstlos (Bleirohr, Bleikabel). Opfer ein Stück aus Regenpfütze gezogen, Geschlechtsverkehr.
Emmi hatte das alles sehr genau vor Augen. Wenn sie etwas sah, fotografierte sie es gleichsam.
Heute war der 4. September, und es sah so aus, als würden die Intervalle des Täters immer kürzer werden.
Was sollte man schon tun dagegen? Wegziehen ging ebenso wenig wie alle Laternen hell aufleuchten lassen. Man konnte nur hoffen, dass es einen selber nicht traf.
Betriebsbahnhof Rummelsburg. Außer Emmi stiegen nur drei Männer aus, allesamt in Eisenbahneruniformen. Sie sprangen sofort, als der Zug wieder aus dem Bahnhof war, auf die Gleise hinunter, um schnell an ihrem Arbeitsplatz zu sein, dem Bahnbetriebswerk nebenan. Keiner benutzte den Fußgängersteg.
Es gab hier nur einen Ausgang, und zwar am Bahnsteigende Richtung Karlshorst. Es war ein Mittelbahnsteig, und sie musste zuerst in einen Tunnel hinunter, weil das nördliche Streckengleis im Wege war. Und das als einziger Fahrgast heute Nacht. Schon hier war es gruselig genug.
Emmi begann zu rennen, schaffte die kritischen Meter, stieg wieder nach oben, verließ das Bahnhofsgebäude und überquerte mit schnellen Schritten die Straße. Kein Mensch weit und breit. Die Wolkendecke war ziemlich dicht in dieser Nacht. Kein Mondschein, das war schlecht, aber keine Luftangriffe, das war gut.
Da war schon das Tor zur Laubenkolonie. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm das Klappmesser heraus, das Albert ihr morgens mitgegeben hatte. »Stoß es ihm in den Bauch!« Wie aber, wenn der Täter sie von hinten niederschlug? Die einen sagten, er sei darauf aus, die Frauen zu betäuben, ehe er sich an ihnen verging, die anderen meinten, dass er ihren Widerstand brauchte, um etwas davon zu haben.
Emmi tauchte in das Dunkel. Sie bemühte sich krampfhaft, ganz leise zu gehen, nur die Fußballen aufzusetzen. Zugleich aber war ihr klar, dass das wenig nützen würde. Der Mann war wie eine Mücke. Die bloße Körperwärme zog ihn an. Wut stieg in ihr auf. Warum umstellten sie das Gelände nicht und suchten systematisch nach ihm? Warum stellten sie keinen Begleitschutz für alle Frauen bereit, die nachts von der Arbeit kamen? Warum war Albert nicht an ihrer Seite, sondern fuhr stattdessen wildfremde Menschen nach Hause?
Sie wusste, dass sie nach rechts musste, prallte aber gegen dichten Maschendraht, als sie es versuchen wollte. Ihr nächster Herzschlag war eine kleine Explosion. Der Mann hatte eine Falle für sie aufgestellt, einen Käfig, um sie … Ihre Beine knickten weg, sie musste sich am Drahtzaun festklammern. So hing sie da und atmete so schwer wie ihre Mutter nach einem Angina-pectoris-Anfall. Sie begann zu beten. »Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken, und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange! Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen!« Es war der 6. Psalm, und es geschah ganz