Alina Tamasan

Eine verborgene Welt


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diesem Bewusstsein zu leben ohne in die geistige Verwirrung abzugleiten.‘

      ‚Gibt es denn noch andere auf der Welt wie mich?‘

      ‚Schlaf‘, erwiderte er schlicht und streichelte sie sanft.

      „Vielen Dank“, flüsterte die junge Frau und schloss die Augen.

      Noromadi betrat mit einem freundlichen Lächeln und einem flotten Gruß auf den Lippen den Raum, gab dem Doktor brav die Hand und nahm artig Platz.

      „Du hast dir die Haare zurückgebunden“, bemerkte der Arzt erstaunt.

      „Ja, sie sind sehr widerspenstig. Ein wenig Ordnung schadet nicht“, antwortete sie kokett.

      „Ich möchte dir heute die freudige Nachricht überbringen, dass dies unser Abschlussgespräch ist. Du wirst heute entlassen.“

      „Dankeschön. Ich wusste es schon, Frau Fischer hat geplaudert.“

      „Ja, unsere Frau Fischer. Manchmal kann sie einem die Überraschung wirklich verderben“, antwortete Dr. Müller augenzwinkernd. Dann erhob er sich und legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Freust du dich auf zu Hause?“

      „Was für eine Frage?“, sie grinste. „Natürlich. Ich habe Heimweh nach meinen Eltern … und nach Martin.“

      „Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück!“ Dr. Müller reichte ihr die Hand.

      ‚Hoffentlich muss ich sie nie wieder schütteln‘, dachte sie schaudernd, derweil sie sich höflich verabschiedete.

      Die Sonne schien hell und heiß, kein Wunder, der Sommer stand in seinem Zenit. Vor der Klinik warteten die Eltern – und Martin. Während Clara und Wilhelm sie fest an sich drückten, blieb er distanziert, als wolle er prüfen, ob sie wirklich geheilt sei. Er musterte sie von oben bis unten. Dann rang er sich ein mühsames Lächeln ab, küsste sie kurz auf die Stirn und bekannte mit einem knappen Gruß, dass er sich freue, sie wieder in der Freiheit zu sehen. Noromadi runzelte die Stirn.

      ‚Wahrscheinlich haben ihn seine Freunde wegen der Irren in der Klappse aufgezogen‘, dachte sie. Mit interessiertem Gesicht ließ sie die Berichte ihrer Eltern von alltäglichen Banalitäten über sich ergehen.

      „Die Bilder, die du auf der Station gemalt hast, gefallen mir sehr gut“, lobte Clara ihre Tochter auf der Fahrt. „Diese Sonnenblume würde ich glatt einrahmen und im Wohnzimmer aufhängen. Was hältst du davon, mein Schatz?“ Sie sah Noromadi mit glänzenden Augen an. Diese erkannte, dass sie sich nicht davor drücken konnte.

      „Ja, eine gute Idee“, antwortete sie gespielt munter, derweil Beklommenheit in ihr aufkam, weil sie wusste, dass dieses Bild sie immer an ihren Aufenthalt in der Psychiatrie erinnern würde. Ihrer Mutter schien dafür das nötige Feingefühl zu fehlen. Als auch Wilhelm die Idee seiner Frau lobte, sank der jungen Frau das Herz in die Knie.

      ‚Halt den Mund‘, zwang sie sich. Dann sah sie Martin an. Der zuckte zusammen und blickte scheu auf die Landschaft, die an ihnen vorbeizog. Zu Hause ließ Noromadi ihre Eltern vorangehen, dann packte sie Martin an der Schulter und hielt ihn zurück.

      „Hör mal“, zischte sie, „du musst dich mit meiner Gegenwart nicht quälen, nur um mich zu schonen. Wenn du etwas zu sagen hast, dann tu es jetzt!“ Um Martins Mundwinkel zuckte es. Schließlich senkte er den Kopf und nuschelte so leise, dass man es kaum hören konnte:

      „Ich denke, es ist besser, wenn wir beide getrennte Wege gehen.“ Noromadi nickte.

      „Das denke ich auch“, antwortete sie und ließ ihn, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, einfach stehen. Sie betrat das Haus und erklärte ihren Eltern, dass Martin noch etwas zu erledigen hätte. Unter einem Vorwand begab sie sich auf ihr Zimmer. ‚Ich werde mich jetzt nicht damit aufhalten, zu erklären, dass wir uns getrennt haben.‘ Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und drückte das Kopfkissen an sich.

      „Egal wie groß das Haus auch sein mag, dieser Raum hier ist meiner, mein Reich, in dem ich sein darf, wie ich wirklich bin“, flüsterte sie. „Ab jetzt gilt für mich mehr denn je: Ich muss aufpassen, was ich in der Gegenwart anderer Menschen sage. Am besten sage ich gar nichts. Ich habe meinen Schutzgeist, mit dem ich reden kann, und wer weiß, vielleicht finden sich noch Gniri … Ob die mich wohl verstehen würden?“ Noromadi kaute zweifelnd auf ihrer Unterlippe. Angst keimte in ihr auf und ließ ihr Herz klopfen, aber dann besann sie sich.

      ‚Alles ist gut, es ist alles in Ordnung. Ich bin nicht verrückt, spätestens dann, wenn ich wieder im Wald bin, werde ich merken, dass sie da sind und ich mich nicht irre. Sie werden den Kontakt suchen, also muss ich mich nicht überwinden, ich muss ihn nur annehmen … Nebenher werde ich ein normales Leben in einem profanen Alltag führen, in dem Studium, Abendessen und andere Themen wohnen, nur keine Gniri oder Engel. Meinen Eltern werde ich eine vortreffliche Tochter sein und für ihre Belange Interesse zeigen, als wären sie für mich von absoluter Wichtigkeit. – Ou, der Nachbar hat geheiratet? Wirklich? Ah, schön … wen denn? Wie alt ist sie? Was macht sie? Oh, Bankkauffrau, ein solider Beruf … Eine neue Tapete haben Sie im Wohnzimmer? Die Blumenmuster sind ja wirklich der letzte Schrei.‘ Noromadi schluckte.

      „Ja, so wird es sein. Diese Gespräche werde ich führen, derweil mich andere Dinge beschäftigen, Dinge, die mein Herz berühren, die mich aufwühlen, Fragen, auf die ich dringend eine Antwort benötige – und all das muss ich mit mir selbst ausmachen, während mich die neue Tapete im Wohnzimmer wahnsinnig fasziniert …“

      „Du bist nicht allein“, hörte sie ihren Schutzgeist plötzlich als reale Stimme. „Alles wird gut.“

      Auf einmal spürte Noromadi etwas Weiches auf ihrer Hand. Sie lächelte, während ihre Augen zu den Medikamenten wanderten, die auf ihrem Schreibtisch lagen.

      „Ich glaube“, flüsterte sie so leise, dass es nur ihr Schutzgeist hören konnte, „ich werde sie ganz absetzen … die Packungen werden leer sein, aber wo der Inhalt landet …“

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