Gerd vom Steinbach

Aufbruch im Miriquidi - Chemnitzer Annalen


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sie denn als solche über Kilometer hinweg durch Gänge verbunden sein?“

      „Nimm das nicht so ernst, man kann in diese Gänge viel hineininterpretieren. Wenn du dann noch die Sagen einbeziehst von dem Abt, der vom Kloster bis nach Rabenstein unterirdisch gegangen sein soll, wovon uns schon als Schulkinder erzählt wurde, dann bist du ganz schnell im Märchenland. Nein, wir müssen uns schon an Belegbares halten. Ein Gründungsjahr der Stadt kann man nicht einfach so festlegen. Das hat man schon zweimal getan, in den dreißiger und in den sechziger Jahren, und jedes Mal eine Achthundertjahrfeier mit großem Brimborium veranstaltet. Genauso gut kann man sich für die Kellergänge eine Geschichte ausdenken. Ein bisschen sollten wir Laien uns trotzdem an Nachweisbares halten.“

      Roland ist nicht länger gewillt, als Zaungast dem Gespräch zu folgen und mischt sich ein: „Es ist schon nicht schlecht, sich ein wenig an die Realität zu halten. Zur Realität gehört aber auch, dass die Chroniken aus dem achtzehnten Jahrhundert deutlich ältere Bezüge aufweisen, als wir es ihnen heute zugestehen. Ich denke da an das Marienstandbild in der Jakobikirche aus dem 10. Jahrhundert oder die Verwüstung der Stadt in den Jahren 923 bis 924. Solche Ereignisse haben sich doch unsere Altvorderen nicht aus den Fingern gesogen, dafür musste es doch gewisse Anhaltspunkte gegeben haben. Warum werden denn die alten Chroniken nicht anerkannt?“

      „Weil damals eben mit manch einem Schreiberling auch die Fantasie durchging. Es ist nun einmal so, dass die Geschichte unserer Stadt erst seit dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts belegbar ist.“

      „Was aber nicht heißt, dass sie nicht noch viel älter sein kann!“

      „Das mag sein, aber was bringt es uns zu sagen, wie alt unsere Stadt ist?“

      „Es bringt uns vielleicht nichts, aber was bringt es, die Behauptung aufzustellen, sie sei um 1170 gegründet worden? Die Pegauer Mönche werden weder die Ersten gewesen noch allein in die Wildnis gezogen sein, um hier ein Kloster und einen Markt zu errichten. Weder Barbarossa noch Kaiser Lothar hätten in der Einöde einen Markt befohlen, wenn hier keine Menschen gelebt haben, zumal er außerdem auch ziemlich abseits der vormaligen Handelsstraßen lag.“

      „Das mag sein. Trotzdem gehen heute die Historiker davon aus, dass die Besiedlung erst mit der Stadtgründung nach 1170 vorankam. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus muss man dem recht geben, denn ohne Beweis ist jede andere Behauptung nur eine Hypothese und kein Fakt.“

      „Diese Denkweise gefällt mir nicht. Wenn die Kreativität fehlt, wird man nie zu neuen Erkenntnissen kommen.“

      „Kreativität allein reicht aber nicht aus, mein Freund. Nun, vielleicht erfährst du etwas Neues im weiteren Verlauf?“

      Roland winkt unmutig ab und geht wieder in den Schulungsraum. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Veranstaltung abzuhaken und nach Hause zu fahren, aber nun hatte er es sich überlegt, vielleicht könnte ihm die anschließende Diskussion doch etwas geben.

      Die obligatorische Frage der Veranstaltungsleiterin nach Wortmeldungen der Teilnehmer zum Thema wird mit Schweigen quittiert. Sichtlich konsterniert blickt der Referent in die Runde. Er scheint seine Ausführungen weitaus interessanter zu finden als seine Zuhörer.

      Endlich meldet sich schüchtern eine junge Frau aus der hintersten Reihe: „Herr Doktor, nach Ihren Darlegungen sind die Pegauer als erste Deutsche in die hiesige Region gekommen. Wie weit war die Besiedlung durch die Sorben zu dem Zeitpunkt schon vorangekommen?“

      Der Dozent räuspert sich kurz und holt dann zu einer breiten Erklärung aus, deren Quintessenz schließlich ist, dass er im Wesentlichen auch nicht mehr weiß als von Wolfsjägersiedlungen, die hier vermutet werden.

      „Ach, Mensch“, überlegt Roland, „wenn die Chroniken im 18. und 19. Jahrhundert von älteren Ursprüngen berichten, muss es doch dafür Quellen gegeben haben. Warum zweifeln wir bloß alles an, was die Alten so sicher wussten?“

      „Herr Doktor“, meldet er sich zu Wort, „Ihrem Vortrag entnehme ich, dass Sie weder aus den archäologischen Untersuchungen noch aus aktuelleren Forschungsarbeiten neue Erkenntnisse über unsere regionale Geschichte gewinnen konnten. Warum betiteln Sie dann diese Veranstaltung mit den Worten ‚jüngste Erkenntnisse‘? Das waren doch alles Aussagen, die wir schon seit zehn Jahren hören.“ Der Referent zieht mokant die Augenbrauen nach oben.

      „In der Geschichtsforschung“, näselt er, „gibt es nicht alle Tage neue Erkenntnisse. Aus manchen Funden kann man auf Neues schließen, aber das muss dann erst hieb- und stichfest abgeglichen werden. Dafür sind wir Wissenschaftler und so kommt es, dass manche Erkenntnisse noch nach Jahren ‚neue Erkenntnisse‘ sind. – Als Laie oder Fantast kann man natürlich alles hineininterpretieren.“

      „Wieso bezeichnen Sie Aussagen, die gegen Ihre Kenntnisse gerichtet sind, als falsch, sie können doch sehr wohl richtig, jedoch nicht gesichert sein?“

      „Ich glaube nicht, dass dieser Disput uns weiterbringt. Sie können ja gern an eine frühere Stadtgeschichte glauben, aber einen Beleg gibt es dafür nicht, womit das Ganze wissenschaftlich vollkommen uninteressant ist.“

      „Das kräftige Tiefdruckgebiet über den britischen Inseln führt ein starkes Regenband nach Mitteleuropa. Der Deutsche Wetterdienst hat eine Sturmwarnung ausgegeben. Aufgrund des Temperaturrückgangs unter den Gefrierpunkt ist verbreitet mit Glatteis zu rechnen. Es wird ausdrücklich …“ Roland schaltet das Radio aus und steigt aus dem Wagen.

      „Lass es meinetwegen aus Kübeln gießen und den Schlossteich zufrieren, ich bin da.“ Er ist zwar hier und jetzt allein, aber er kann es nicht lassen, seinen Kommentar zu äußern. Über diese Eigenart mokiert sich sein Sohn immer wieder aufs Neue. Gern äfft er ihn nach:

      „So und jetzt muss ich …“ Mit einem Lächeln auf den Lippen steigt Roland aus dem Wagen und lässt die automatische Schließanlage klicken. Während das Licht im Fahrerraum langsam verlischt, geht er zum Garagentor und hebt die lange Haltestange aus der Öse. Eine plötzliche Sturmbö reißt ihm den schweren Flügel aus der Hand, drückt ihn nach außen und lässt ihn gegen das Tor der Nachbargarage schlagen.

      „Ach, du grüne Neune, hier ist Rom offen!“, knirscht er durch die Zähne und springt hinterdrein, um das Tor zurückzuholen. In diesem Augenblick wird der Flügel zurückgewuchtet und, kaum dass er ausweichen kann, fällt schwer ins Schloss. „Mistwetter, verdammtes! Ich breche mir noch alle Knochen! Jetzt jagt man doch keinen Hund vor die Tür!“ Vor Schreck erbleicht lehnt er sich keuchend gegen das raue Holz und während er am dicken Schlüsselbund in der Jackentasche zerrt, geht nun eine wahre Sturzflut nieder. Wie, um der Situation die entsprechend komische Würze zu verleihen, hat sich der Ring jedoch im Futterstoff verhakt, welcher sich seinem rohen Zerren nun nicht länger widersetzt und mit einem grässlichen Reißen nachgibt. Aufgebracht schlägt Roland den Kragen hoch und spürt missmutig, wie das kalte Wasser über den Nacken rinnt. Er hat keinen Blick für das imposante Schauspiel, das ihm die Natur bietet. Der Sturm beugt die langen, schmalen Pappeln, dass sie vor Qual ächzen. Die Sträucher, soweit sie keinen Schutz im Windschatten haben, verneigen sich vor den entfesselten Elementen bis tief auf den Boden. Das wenige letzte Laub beging längst Fahnenflucht von seinem angestammten Platz und die braunen Blätter fegen gleich Geschossen durch die Luft.

      Mit einiger Kraftaufwendung stemmt sich Roland gegen den Sturm und erklimmt die drei ausgebrochenen Stufen zu Fahrbahn. Den Blick stur auf die in der Dunkelheit kaum zu erahnende Gartensparte jenseits der Straße gerichtet, sehnt er sich danach, zügig die wenigen Meter bis zum wohligen Zuhause zurückzulegen und endlich die Wohnungstür hinter sich schließen zu können. Roswitha wird schon den Tisch gedeckt haben.

      „Und dann gibt es einen schönen heißen Tee!“, murmelt Roland vor sich hin, zieht die Schultern fröstelnd hoch und dreht das Gesicht zum Schutz vor dem Unwetter nach rechts. Urplötzlich umfasst ihn gleißende Helligkeit und malt seinen Schatten in bizarrer Länge auf den nassen Asphalt. Den schweren Stoß an der Hüfte, den Flug durch die Luft und den harten Aufschlag nimmt er schon nicht mehr wahr, nur das Licht erweitert sich zu einer Grelle von hunderten Flutlichtmasten.

Teil I