Gottfried Senf

Briefgeschichte(n) Band 2


Скачать книгу

so, als ich mich zur Ruhe setzte. Da hatte ich so viel vor, dass mir die Zeit knapper wurde als vorher. Auch jetzt noch komme ich nicht zu all dem, was ich mir vornehme.

      Lieber Gottfried, liebe Karin: wir wünschen Euch ein frohes Osterfest. In diesem Sommer sind schon vier Jahre vergangen, seit Ihr hier wart. Das ist doch kaum zu glauben. Ihr solltet einmal wiederkommen. Mit den besten Grüßen von John + Gisela

       Geithain, 06.03.2000

      Liebe Gisela, lieber John, vielen Dank für den Brief mit den Beilagen vom 25.02.2000. Es ist richtig, die E-mail-Schreiberei verführt zur kurzen Form, ein richtiger Brief ist doch etwas anderes. Das Schreiben und das Versenden dauert aber länger! Na gut, hier und heute eben mal nach langer Zeit wieder ein konventioneller Brief.

      Ich habe in den letzten Wochen tatsächlich ziemlich intensiv an der Geschichte Geithains und speziell an der Guenther-Sache gearbeitet. Die Beiträge "Unterirdische Gänge" und "Stadtrundgang" sind da nur ein Teil. Dann stehe ich mit einigen Radfreunden von den Irlandtouren in ständiger E-Mail-Verbindung. Gestern gerade erhielt ich von Tina aus Nova Scotia 15 herrliche Farbfotos von der vorjährigen Tour. Terry aus L.A. ist ebenfalls eine ganz fleißige Schreiberin und kommt vielleicht in diesem Sommer nach Deutschland. Zwei ehemalige Schülerinnen vom Gymnasium Penig (eine in Mexico, die andere in Denver/Colorado) erzählen ausführlich über ihre Arbeit und ihr Leben dort und wollen natürlich auch wissen, wie es in Penig und Sachsen zugeht. Es ist schon eine herrliche Sache mit den neuen Medien, bei allem Schund, der natürlich auch im INTERNET vorkommt!

      Demnächst erwarte ich Antwort vom HEO (Historic Emigration Office) in Hamburg: Ist Paul Guenther 1890 von Hamburg aus nach USA gegangen oder nicht? Wenn ja, wann genau und mit welchem Schiff? Und--- ganz wichtig---wie lautete seine letzte Wohnanschrift in Chemnitz? Von 1879 bis 1884 wohnte er in Thalheim, am Eisenhammer. Danach ging er nach Chemnitz. Von da an fehlt uns die Adresse. In Thalheim war er Pate bei einer Familie Hahn. Die Gebrüder Hahn tauchen ja dann auch in Dover auf! Du weißt, sie hatten die Erfindung zum Fersenstricken gemacht (der sogenannte "Pointexheel"). Eine Familie Reinhardt (Guenther borgte sich dort in Dover etwas Geld für den Neuanfang) taucht in den umfangreichen Auswanderungslisten ebenfalls auf. Herr Hofmann, Heimatforscher aus Thalheim, von dem ich die Auskünfte erhielt, hat die Verbindung mit Archibald Nicolas (sein Vorfahr war ein Herr Rößler aus Thalheim) und George Coulthardt, dem Heimatforscher in Dover/N.J., aufgenommen. Ich gab ihm die Adressen, die ich damals von Dir bekommen habe. Herr Hofmann hat inzwischen über 200 Thalheimer mit Namen und anderen Daten, die von 1900 bis 1930 nach Dover ausgewandert sind. Ich glaube, viele der heutigen Einwohner von Dover können in Thalheim ziemlich detailliert Auskunft über ihre Vorfahren erhalten. Ich finde das alles wirklich toll! Die homepage vom HEO zu lesen, ist äußerst interessant. Unzählige Amerikaner bedanken sich dort, weil sie auf der Suche nach ihren Vorfahren dank HEO Erfolg hatten.

      Ich habe Dir ein vorläufiges Inhaltsverzeichnis von der ganzen Sache, mit der ich mich jetzt beschäftige, beigelegt. Du kennst natürlich vieles schon. Ich möchte eben alles, was bisher mehr oder weniger unabhängig voneinander entstanden ist, einmal zusammenstellen. Ob und wann dann etwas Richtiges daraus wird, weiß ich noch nicht. Der Titel allein wäre schon ein Problem. Kommt Zeit, kommt Rat! Im Frühling und Sommer werde ich ohnehin daran nicht wesentlich weiterarbeiten. Da gibt es so viel anderes zu tun. Bei den Kapiteln "Schulleben 1925-33“ und „…1933-1945“ stieß ich auf Kurt Klein, einen ehemaligen Lehrer an der Paul-Guenther-Schule, der Dich interessieren könnte. Klein war nach 1945 in den Kreisen Borna und Geithain geradezu eine Institution in Sachen Kultur und Lehrerweiterbildung. Er stand Jahrzehnte in brieflicher Verbindung mit seinem Pflegesohn aus Hamburg. Dieser Pflegesohn lebte von 1932 bis 1939 in Geithain bei Kleins an der Wickershainer Kirche. Klein war dort auch Kantor. Der Pflegesohn hieß Rudolf Walter Leonhardt. Als langjähriger ZEIT-Leser ist Dir vielleicht der Name bekannt.

      Leonhardt soll viele Jahre das Feuilleton in der ZEIT geleitet haben. In den 1960er Jahren interessierte sich die Stasi für Klein. Alles ist nachzulesen in dem äußerst interessanten Buch:

       Kurt Klein, Von Deutschland nach Deutschland, Briefe aus der "Ostzone" 1947- 1985, an Rudolf Walter Leonhardt.

      Du bekommst es bald zugeschickt. Das werde ich vom Heimatverein aus veranlassen. Du hast uns bei den Nachforschungen zu Guenther so geholfen. Da ist es nur recht und billig, hier etwas Dank zu sagen. Im Übrigen ist die ganze Guenther-Forschung so eine Sache. Ich habe wohl schon einmal angedeutet: Die vielen Stunden der Beschäftigung mit dem Thema Guenther, die vielen Briefe, die Telefonate, die Recherchen in Archiven und im Internet und alles andere – es ergäbe ein „hübsches Sümmchen“, wenn man alles berechnen würde!! Aber egal, es macht mir Freude! Manche Geithainer können das nicht verstehen und begreifen wohl auch nicht, welche Arbeit dahintersteckt. Sie sehen allein die Tatsache, dass von den Nachfahren Guenthers seit 1995 Geld an die Schule gespendet wird. Das LVZ-Interview des Schulleiters Neuhaus liegt nunmehr zwar schon drei Jahre zurück, die dort genannten 70.000 $ haben offenbar manchen Geithainer erst auf die Paul-Guenther-Forschung aufmerksam gemacht.

      Deine Schilderung zum Gebäude des Landratsamtes in der Bahnhofstraße kannte ich schon aus Deinen "Erinnerungen 1945". Ich werde einen Hinweis im "Stadtrundgang" natürlich aufnehmen, denke aber eher an einen Extraartikel in der LVZ zur Geschichte dieses Hauses mit einem Aufruf zu noch vorhandenen Bildern. Kürzlich erhielt ich ein Bild von der Bahnhofstraße (Blick von Haus Altenburg nach Norden) aus dem Jahr 1895! Mehrere Häuser in unserer Robert-Koch-Str. stehen zu dieser Zeit noch nicht.

      Ähnliches schwebt mir zum Markt vor. Ich las letztens die ausführlichen Berichte im "Geithainer Wochenblatt" zum Besuch König Johanns von Sachsen 1870 in Geithain. Ich kann nur sagen K ö s t l i c h !! Die superdevote Haltung unserer braven Geithainer und ihrer Stadtoberen gegenüber dem gnädigen König! Ein Wort fiel mir besonders auf: "Unverbrüchlich" Natürlich haben sich die Formen untertänigen und obrigkeitsstaatlichen Verhaltens im Laufe der Jahrzehnte geändert. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich nach analogem Material zu Veranstaltungen auf dem Geithainer Markt suchen: in der Kaiserzeit, von 1933- 45, und dann natürlich die zahlreichen "machtvollen Kundgebungen" nach 1945 mit der wiederholten Bekundung der "unverbrüchlichen Freundschaft" mit den sowjetischen Genossen, mit der Sowjetarmee, mit dem großen Stalin, mit dem Heimatland des Sozialismus ... Und nach der Wende von 1989/90? Beides, das ehrfurchtsvolle Hinaufsehen zur Macht und das entsprechende Herabsehen der Mächtigen andererseits, ist noch vorhanden, im Osten weit mehr als im Westen! Du kennst meine Meinung, das steckt irgendwie auch heute noch in den Deutschen. Zur CDU-Krise und zu Kohls Regierungsgebaren hörte ich letztens im Fernsehen eine interessante Meinung: War das nun wirklich das letzte Mal, dass die Deutschen der Macht so gläubig vertraut haben? Es gibt in der Tat schon Parallelen zu den letzten Tagen der DDR, als unglaubliche Meldungen über die Arroganz und Ignoranz der Mächtigen bekannt wurden. Auch jetzt fragen sich manche Kohlbewunderer, warum sie solange mitgemacht haben. Seit Wochen geht es in Presse und Fernsehen ausschließlich um diese Skandale. Man kann es fast nicht mehr hören. Die Gefahr ist, dass bei vielen Leuten der Wunsch nach "dem Ausmisten des Saustalles" und der Ruf nach dem „Starken Mann“ bis hin zur Verachtung "dieser Demokratie" riesengroß ist und dann natürlich ein Haider Gehör findet. Ich freue mich aber, dass Angela Merkel von der CDU und Wolfgang Thierse von der SPD als ehemalige Ostler so schön an Profil gewonnen haben. Irgendwie glaube ich schon, dass der blöde Ossi-Wessi-Knatsch abnimmt. Bei den jungen Leuten ist das meiner Ansicht nach schon weitgehend geschehen. In gewisser Weise haben die Westdeutschen mit den aktuellen Skandalen eben auch ihre Wende mit der Notwendigkeit eines Neuanfangs. Vielleicht hat alles auch eine positive Seite! Im letzten Brief zitierte ich wohl den Titel einer Fernsehsendung: „Deutschland einig Jammerland“ Da ist nach wie vor etwas daran.