Detlev Sakautzky

Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 3)


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forderte der Zweite Steuermann die Decksleute auf, sich von ihren Besuchern zu verabschieden. Hierfür ging er in jede Kammer und sprach mit den Männern. Die Grönländer kamen der Aufforderung nach. Sie wurden zur Relingstreppe begleitet und durch Handzeichen aufgefordert das Schiff zu verlassen. Sie stiegen über die angebrachte Tauleiter in ihre vertäuten Boote, wobei die Decksleute ihnen behilflich waren. Naje war auch dabei. Als sie über die Tauleiter das Schiff verließ, winkte sie fröhlich mit ihren Fellhandschuhen. Fritz war enttäuscht.

      „Na Fritz, hatte ich recht? Deine große Liebe wurde nicht erwidert“, sagte Rudi tröstend.

      Fritz verließ bedrückt das Deck und ging in seine Kammer. Er hatte etwas dazugelernt.

       *

      Nach einer Stunde kam der Kapitän mit dem Hafenboot zurück. Er erkundigte sich nach den Gegebenheiten.

      „Wir können den Anker hieven und auslaufen. Die Besucher sind von Bord“, informierte der Zweite den Kapitän.

      Der Kapitän übernahm den Wachdienst. Er beauftragte den Zweiten, den Anker hieven zu lassen.

      „Anker klar zum Hieven!“, rief der Zweite, nachdem die Vorbereitungsarbeiten abgeschlossen waren.

      „Hiev Anker!“, befahl der Kapitän.

      Der Zweite ließ den Anker hieven.

      „Anker ist aus dem Grund! Anker ist aus dem Wasser!“, rief der Zweite.

      „Anker in die Klüse hieven! Anker seefest machen“, war die Order des Kapitäns.

       *

      Langsam fuhr der Trawler aus dem Hafen. Naje stand gut sichtbar allein in der Nähe der Ausfahrt und winkte noch lange dem Schiff hinterher.

      FÜR IMMER SEEUNTAUGLICH

      Der Logger „Anthonia“ befand sich im Fischereihafen. Der Kapitän hatte den Zeitpunkt zum Auslaufen des Schiffes noch nicht bestimmt. Es waren noch wichtige Reparaturarbeiten an der Kurrleinenwinde durchzuführen. Die Decksleute räumten das Deck auf – verstauten Drahtrollen und Netzteile sowie den restlichen Proviant in den vorgesehen Lasten. Einige der Decksleute spleißten Zubehörteile für das Fanggeschirr. Für die kommende Reise fehlten noch Haedleinen, Laschen und Rollenstander.

      Roland Dorr, der Zweite Steuermann, nutzte die Zeit mit Torsten, dem Auszubildenden, die Anfertigung eines Augspleißes zu üben. Er übergab Torsten die Rollengeschirrzeichnung sowie die zum Spleißen erforderlichen Werkzeuge. Eine Rolle mit Drahttauwerk hatten die Decksleute schon vormittags aus der Netzlast geholt. Torsten markierte die in der Zeichnung festgelegten Abmessungen durch Taklinge und trennte die markierten Drahtabschnitte mit dem Kappbeil. Bei den Vorbereitungsarbeiten wurde er durch Hartmut, einen Decksmann, unterstützt.

       *

      „Tosten, welche Unfallverhütungsvorschriften sind beim Spleißen von Drahttauwerk zu beachten?“, fragte der Zweite Steuermann.

      „Es sind ein Helm, eine Schutzbrille, Lederhandschuhe und festes Schuhwerk zu tragen“, antwortete Torsten.

      „Welche Fertigungshinweise sind bei der Fertigung des Augspleißes aus Drahttauwerk zu berücksichtigen?“, fragte der Steuermann weiter.

      „Der Hilfstakling ist sechs Törns vom Ende zu setzen. Jede Litze ist mit einem Takling zu versehen. Die freiliegende Fasereinlage ist im Keilschnitt herauszuschneiden. Die Größe des zu spleißenden Auges ist festzulegen und im Schraubstock zu sichern“, antwortete Torsten.

      „Da fehlt noch etwas“, erinnerte der Zweite Steuermann den Auszubildenden.

       Fertigung des Spleißes.

      „Die Litzen sind bis zum Hilfstakling aufzudrehen. Es sind lange Schläge ohne Kinken zu stecken“, ergänzte Torsten zurückhaltend seine Antwort.

      „Das ist richtig. Der Augspleiß muss nicht nur bei Belastungen halten, sondern auch gut aussehen“, lobte der Zweite den Auszubildenden.

      „Beachte! Entsprechend der Reihenfolge sind drei nebeneinanderliegende Kardeele auf jede Seite zu legen“, fuhr er fort.

      Beide gingen mit dem vorbereiteten Auge zum fest angebrachten Schraubstock vor dem vorderen Mast. Torsten legte das geformte Auge in die Backen des Schraubstockes und verschraubte diesen fest. Torsten benutzte, wie angewiesen, die vorgeschriebenen Unfallverhütungsmittel.

      „Vergiss nicht, die erste Litze ist unter drei feste Litzen mit dem Schlag zu stecken. Beim Anheben der Litzen mit dem Marlspieker darf die Fasereinlage nicht beschädigt werden“, mahnte der Zweite Steuermann.

      Torsten führte den Marlspieker unter die ersten festen drei Litzen und steckte die erste zu spleißende Litze hindurch.

      „Die Litze ist mit dem Marlspieker am Austritt dichter zu holen“, forderte der Zweite von Torsten.

      Dieser kam der Weisung nach und holte die gesteckte Litze dicht. Dabei traf er den Zweiten Steuermann mit dem betakelten Ende der Litze im Gesicht und verletzte das rechte Auge. Der Zweite konnte auf dem verletzten Auge nichts mehr sehen und hatte fürchterliche Schmerzen. Torsten rief laut um Hilfe. Der an Deck stehende Erste Steuermann sah den Unfall. Er informierte sofort telefonisch den medizinischen Rettungsdienst. Der Erste Steuermann holte aus der Bordapotheke Verbandsmaterial. Zwei Decksleute brachten eilig die Krankentrage. Der Zweite legte sich mit Hilfe des Ersten Steuermanns auf die Trage. Der Erste bedeckte das verletzte Auge mit einem sterilen Verband und sicherte den Körper durch die Haltebänder für den Transport.

      Der Rettungswagen kam und hielt vor dem Landgang des Loggers. Vier Decksleute trugen den Zweiten über den steilen Landgang auf die Pier zum Rettungswagen. Ein Arzt und ein Rettungssanitäter halfen bei der Aufnahme des Patienten. Der Erste informierte den Arzt über die Ursache und Art der Verletzung. Schnell wurde der Zweite in die städtische Augenklinik gefahren.

       *

      Da es sich um einen schweren Arbeitsunfall handelte, benachrichtigte Kapitän Sommer die Arbeitsschutzbehörde und die Kriminalpolizei, die sich bald darauf beim ihm an Bord meldeten und die Unfallursache gemeinsam untersuchten.

      Torsten wurde befragt. Niedergeschlagen berichtete er über den Unfallhergang und die dem Zweiten zugefügte Verletzung.

      „Es geschah ungewollt. Der Zweite Steuermann forderte mich auf, die Litze dichter an das geformte Auge zu ziehen. Er bückte sich in dem Moment über das eingespannte Drahtauge, als ich die Litze anzog. Das betakelte Ende der Litze traf den Zweiten Steuermann in der rechten Gesichtshälfte und in das rechte Auge“, berichtete Torsten merklich bedrückt und ängstlich den Behörden.

      „Hatte der Zweite Steuermann eine Schutzbrille getragen?“, fragte der Arbeitsschutzinspektor.

      „Zu Beginn ja. Nachdem das Drahtauge im Schraubstock eingespannt war, hat er die Brille abgenommen und zur Seite gelegt“, antwortete Torsten.

      „Warum hat er das getan?“, fragte der Inspektor weiter. „Ich weiß es nicht. Der Zweite hat sich hierzu nicht geäußert.“

      „Haben Sie eine Schutzbrille getragen?“, fragte der Mann von der Arbeitsschutzbehörde.

      „Ja, ich habe eine Schutzbrille, einen Helm und Handschuhe getragen, wie es der Zweite angewiesen hatte“, antworte Torsten zurückhaltend.

      Die Decksleute, die in der Nähe Netzreparaturarbeiten durchführten, bestätigten seine Aussage.

      Die Behörden beauftragten den Kapitän, eine Unfallanzeige zu schreiben.

      Der Unfall wurde durch den Kapitän der Reedereiverwaltung gemeldet.