Konzertexamen abgelegt. Und wie. Nach dem letzten Ton des knapp zweistündigen Programms wollte der Beifall nicht verstummen. Er musste sieben Zugaben spielen, sage und schreibe sieben Zugaben, bis das Auditorium endlich Ruhe gab. Sieben Zugaben. Nicht zu glauben. Es folgte eine rauschende Feier, denn im Grunde war alles klar. Es konnte nur ein „Mit hervorragender Auszeichnung bestanden“ geben, verbunden mit der Empfehlung für ein anschließendes Meisterstudium in der Landeshauptstadt Mantribur, bei dem am Ende der Titel „Nationaler Kammervirtuose“ winkte, in aller Regel Grundstein für eine von staatlicher Seite aus großzügig geförderte Solistenkarriere. Mein Gott, er hatte es geschafft! Es sah jedenfalls ganz danach aus.
Salfrank bekam die Bestnote, aber mit dem Meisterstudium wurde es nichts. Minkow nahm ihn im Audimax nach der Übergabe der Diplome beiseite und sagte: „Ordentliches Examen, um es noch mal zu sagen, Kompliment, hast mich nicht enttäuscht, na, das wäre auch allerhand gewesen, aber … das alles ändert nichts dran, dass du schwerlich, nimm mir’s nicht krumm, wirklich das Zeug zum, hm, reisenden Virtuosen hast. Dir fehlt dafür, glaub mir, die originäre robuste künstlerische Statur, das Unverwechselbare, noch nie Dagewesene, das halbe Pfund Genie, wenn du so willst, ohne dass es nun mal nicht geht. Junge, ich will dir was sagen: Du läufst im Falle des Falles Gefahr, schlussendlich vor einem gewaltigen Scherbenhaufen zu stehen. Ich kenne eine Menge Leute, die konnten am Ende kein Klavier mehr sehen. Um es klipp und klar zu sagen: Die Empfehlung für Mantribur, da hab ich noch nichts veranlasst. Wenn du unbedingt darauf bestehst, gut. Aber hör zu: Was würdest du sagen, wenn ich dir statt der Geschichte eine Stelle als außerordentlicher Aspirant anbieten würde? Mit der Perspektive, in zwei, drei Jahren per Sonderacklamation zum künstlerischen Fachdozenten ernannt zu werden. Hast du das verstanden? Ja? Gut. Also vielleicht überlegst du dir das mal. Du hast ein sicheres Auskommen, erfüllst eine Aufgabe und dir bleibt auch, das garantiere ich dir hier und heute, genügend Zeit, um selbst noch weiter voranzukommen.“
Salfrank schlug, nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, in die Hand ein. Nach der ersten Enttäuschung – was Minkow ihm da an den Kopf geworfen hatte, war ja nicht ohne gewesen – sah er mit einem Schlag auch die andere Seite. Es gab tatsächlich nicht wenige einst verheißungsvoll gestartete Unglücksraben in seinem Fach. Wirkliche Erfolgsgeschichten waren rar.
Zwei Jahre ist das her. Er war heute, mit vierundzwanzig, eine feste Größe im Musikleben der Heimatstadt, das durfte er ohne Übertreibung von sich sagen, galt als ausgezeichneter Lehrer, dazu als hundertprozentig zuverlässiger, im Grunde durch niemand anderes mehr auf die Schnelle zu ersetzender Korrepetitor und seine Soloabende zogen ein ums andere Mal vermehrt auch Zuhörer von außerhalb an. Ja, er war drauf und dran, sich einen Namen zu machen. Wer hätte das gedacht, alles in allem und überhaupt … Außerdem würde er, ehrlich gesagt, auch nicht mehr gern auf den täglichen Weg durch die Anlagen der Medizinischen Akademie und die Gassen der Nordstadt verzichten wollen.
Aber … nichts mit aber …
DICHTERBÜSTEN
Die Bildhauerin Anna Hahn amüsierte sich wieder einmal köstlich. Eine Schulfreundin hatte geschrieben, eine der wenigen aus ihrer Klasse, die in Grincana, der kleinen Stadt im Norden des Grünen Berglands, hängengeblieben waren. In dem Brief steckte, versehen mit der in Schönschrift prangenden Anmerkung „Das dürfte Dich sicher interessieren, nochmals herzliche Grüße Deine Rosalie“, ein Zeitungsausschnitt, der unter der Überschrift „Die Leiden des alten Broeder in G.“ eine mit Vogelkot bespritzte und auch sonst ziemlich unappetitlich ausschauende Büste aus Sandstein zeigte. Dem Bildtext war zu entnehmen, dass das leidige Problem mit den Denkmalen in der Anlage „Bürgererholung“ den Mitarbeitern des städtischen Grünamts bekannt sei und man in Kürze auch Abhilfe zu schaffen gedenke. Es müsse lediglich ein abschließender Bescheid der Unteren Denkmalbehörde abgewartet werden betreffs der Chemikalien, die bei der anstehenden Säuberung verwendet werden dürfen. Diesbezüglich gebe es seit kurzem neue Richtlinien.
Bei der Zeitung wussten sie wohl wieder mal nicht, worüber sie schreiben sollten, und haben die Geschichte mit den Büsten ausgegraben, die ewige Geschichte, dachte die Bildhauerin und strich den Ausschnitt glatt. So sah man sich alle Jubeljahre wieder …
Das Drama, anders kann man die Sache beim besten Willen kaum nennen, hat eine lange und ziemlich vertrackte Vorgeschichte. Gut sechzig Jahre, nicht zu glauben, ist das alles her. Damals war der letzte große Krieg zu Ende gegangen und das Städtchen Grincana wie so viele andere Orte auch unter sarkundische Besatzung gekommen. Vier Jahre zuvor waren die Machthaber in Talanta auf die Idee verfallen, nachdem sie schon eine Reihe kleinerer Nachbarländer erobert hatten, sich nun auch Sarkundien, das große Reich im Osten, vorzunehmen. Nach ersten spektakulären Erfolgen, der Gegner war von dem Angriff in einem ungünstigen Moment überrascht worden, geriet der irrwitzige Feldzug jedoch schnell ins Stocken und allmählich kehrten sich die Verhältnisse auf geradezu fatale Weise um. Zug um Zug mussten die talantesischen Truppen zurückweichen. Die Sarkundier erwiesen sich wider Erwarten als tüchtige Soldaten, das zu Zeiten raue Klima in dem Riesenland tat ein Übriges. Als sich die Front schließlich auch der ruhigen, idyllischen Gebirgsgegend um Grincana näherte, wurde dort die Furcht vor dem, was sich in Kürze ereignen würde, von Tag zu Tag größer. Wie würden die Sieger mit den Einheimischen verfahren? Nicht allein, dass Sarkundien allem Anschein nach aus heiterem Himmel überfallen worden war, es musste, war durchgesickert, dort auch unvorstellbare Verluste an Menschen und Material gegeben haben. Ganze Städte waren ausradiert, Hunderte von Dörfern niedergebrannt worden. War da anderes zu erwarten als Rache und Vergeltung?
Die meisten von den Oberen setzten sich deshalb auch – oft in letzter Minute noch – aus Grincana ab, flüchteten gen Westen, wo sie vielleicht auch nicht gänzlich ungeschoren davon kommen würden, jedoch wohl kaum das zu befürchten hatten, was ihnen von den Sarkundiern drohte. In dem Land hatte es zu allem Unglück vor einiger Zeit nämlich auch noch eine sämtliches Alte und Bewährte radikal hinwegfegende Revolution gegeben. Es war eine neue Ordnung aus dem Boden gestampft worden, in der man als Adelsspross, Fabrikant, Gutsbesitzer, Börsenspekulant etc. keine guten Karten hatte. Wer sich dort seinerzeit nicht rechtzeitig davonmachte, konnte ohne weiteres in die Lage kommen, sich fortan sein Brot als einfacher Arbeiter verdienen zu müssen. Nicht wenige zuvor vom Schicksal Begünstigte wurden gar eingesperrt oder landeten in einem Straflager. Dass mit dergleichen Existenzen in einem besiegten Land mindestens das Gleiche, womöglich noch Schlimmeres passieren würde, lag auf der Hand.
Als es soweit war, die Sarkundier einzogen, ihnen hatten sich nur zwei Panzer entgegengestellt, die binnen weniger Minuten in Flammen geschossen waren, sollten sich die schlimmsten Ängste und Vermutungen nicht bewahrheiten. Es war vielmehr so, dass der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung kaum etwas geschah. Auf den zwei großen Plätzen der Stadt, dem Prinzenanger und dem Alten Markt, standen Gulaschkanonen, wurden von den fremden Soldaten Suppe und andere Lebensmittel verteilt. Im Rathaus hielt ein sarkundischer Militärkommandant Einzug, der in den nächsten Tagen und Wochen allerlei Aushänge veranlasste. So wurde die vorübergehende Einführung eines Notgelds bekannt gegeben, Maßnahmen zur Abwendung von Seuchen angeordnet und die Bevölkerung aufgefordert, alle eventuell noch in Privatbesitz befindlichen Waffen unverzüglich abzugeben. Dem Kommandanten stand eine Gruppe Einheimischer zur Seite, meist Leute, die der Sozialistischen Arbeiterpartei angehört hatten, jener Organisation, die im verflossenen grausamen Radara-Regime verboten gewesen und deren Mitglieder unerbittlich verfolgt worden waren.
In den folgenden Wochen und Monaten geschahen dann Dinge, über die sich die meisten Grincaner nicht genug wundern konnten und an die man sich in späteren Jahren nicht selten mit einer gewissen Wehmut erinnerte. Binnen kurzem spielte auf Veranlassung des fremden Kommandanten nämlich das Theater wieder, was angesichts der beschränkten und in vielem noch ungeordneten Verhältnisse einem kleinen Wunder gleichkam. Das städtische Sinfonieorchester, dessen Arbeit in den letzten Kriegsmonaten gleichfalls geruht hatte, begann wieder zu proben, eine Musikschule wurde gegründet, es fanden in loser Folge Buchlesungen, Vorträge, Kammerkonzerte statt. Nie wieder, hieß es später, habe es so viele und so gut besuchte Kulturveranstaltungen in Grincana gegeben. Und je mehr Zeit ins Land ging, umso mehr fragte man sich, wie das möglich gewesen war, wo doch damals alles am Boden