Erleichtert wurde die Transformation der HDZ noch durch den Umstand, dass Franjo Tuđman „rechtzeitig“ starb und so einer möglichen Anklage durch das Haager Tribunal entging.
Verzögert und belastet wurden und werden die (partei-)politischen Transformationen durch die ungeklärte nationale Frage. Zwar kann die Dissolution des Tito-Staats seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008 als formal beendet betrachtet werden, doch hat sich Serbien mit dem Verlust des Kosovos bisher nicht abgefunden. Zwar ist es durchaus wahrscheinlich, dass dieser Prozess in praktischer Hinsicht mit einer pro-europäischen Regierung einhergehen wird, gesichert ist dieser Trend jedoch nicht. Bis zur Erkenntnis, dass das serbische Volk nach dem Scheitern der Politik von Slobodan Milošević nur unter dem Dach der EU wieder ohne Grenzen wird leben können, ist der Weg noch weit. Obwohl Serbien neben Montenegro der einzige Staat im ehemaligen Jugoslawien ist, der auf eine lange Staatlichkeit zurückblicken kann, muss Serbien in gewisser Hinsicht als Staat wider Willen bezeichnet werden, während in Montenegro die Nationsbildung erst im Gang ist. Denn so sehr Serbien die Hauptverantwortung für den Zerfall des ehemaligen Jugoslawien trägt, so sehr fühlten sich viele Serben von den anderen Teilrepubliken verraten, weil sie den gemeinsamen Staat verließen. Belgrad benahm sich in dieser Hinsicht ähnlich einem Ehepartner, der den anderen schlecht behandelt und dann enttäuscht ist, weil sich der scheiden lässt. So war der erste Akt, mit dem Serbien die eigene Staatlichkeit aus eigenen Stücken beschritt die Verabschiedung seiner eigenen Verfassung; doch dieses Referendum fand erst Ende Oktober 2006 und damit sechs Jahre nach dem Sturz von Slobodan Milošević statt. Während Serbien mit dem Bau eines viel kleineren „Hauses“ beschäftigt ist, geht es bei Montenegro, Bosnien, dem Kosovo und Mazedonien noch immer um die Nationsbildung. All diese Republiken erhielten ebenso wie Slowenien und Kroatien unter Tito ihre heutigen Grenzen, doch nur in den national weitgehend homogenen Staaten Slowenien und Kroatien steht die Nation außer Streit.9) In Montenegro existiert eine beträchtliche Volksgruppe, die sich als serbisch betrachtet, und der Kosovo ist als Ergebnis des Kriegs nun national weitgehend homogen, doch lehnen die Serben im von ihnen kompakt besiedelten Norden die Unabhängigkeit strikt ab. In Bosnien leben Kroaten, Bosniaken und Serben seit dem Krieg nebeneinander, und noch kann nicht einmal von Verfassungspatriotismus gesprochen werden. Mazedonien wiederum stand durch den Aufstand der Albaner 2001 am Rande des Zerfalls, ein Prozess, der neuerlich einsetzen könnte, wenn die euroatlantische Integration durch den Namensstreit mit Griechenland noch viele Jahre auf sich warten lässt.
Sowohl das Königreich Jugoslawien als auch das kommunistische, von Tito geschaffene Jugoslawien sind in letzter Konsequenz an der ungelösten Nationalitätenfrage gescheitert, obwohl natürlich auch die Auseinandersetzung der Großmächte eine Rolle spielte, die ebenfalls auf dem Balkan ausgetragen wurde. Doch die Hauptkräfte des Zerfalls sind in den beiden Jugoslawien selbst zu suchen und zwar nicht zuletzt in den großen wirtschaftlichen, kulturellen und historischen (Entwicklungs-)Unterschieden. Sie beschreibt der serbische Dichter und Schriftsteller Jovan Dučić10) so:
„Für die Kroaten war der Jugoslawismus eine großserbische Falle, eine politische Perversität, eine balkanische Verschwörung gegen die katholische Kirche, das kroatische Staatsrecht, die westliche Kultur und gegen das Verständnis über Ordnung und Gesetzlichkeit. Die Gesetzlichkeit, wie sie das kroatische Volk, obwohl oft gedemütigt, in der Habsburger Monarchie kannte, stellte dennoch eine der mustergültigsten Verwaltungen und eine beispielhafte Justiz in Europa dar. Um einen jugoslawischen Staat zu bilden, musste man auch ein jugoslawisches Volk schaffen, und eine jugoslawische Sprache haben … Doch die Sprache nannten die einen Serbisch, die anderen Kroatisch. Wenn man noch die wechselseitige, jahrhundertelange Unduldsamkeit, den religiösen Unterschied, die kulturelle Mentalität berücksichtigt, dann konnte eine derartige Nivellierung und Vermischung nicht für durchführbar erachtet werden in einer derart unerwarteten staatlichen Verbindung, die niemals und durch nichts vorbereitet oder gar vorhergesehen war.“
Diese Darstellung trifft für die Schaffung des „Staates der Südslawen“ nach dem Ersten Weltkrieg mit großer Sicherheit zu. Trotzdem, und aller wechselseitigen Gräueltaten während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Trotz, sind die staatsbildenden Völker des ehemaligen Jugoslawien Nachbarn, lebten mehr als 70 Jahre in einem Staat und weisen zum Teil eine große sprachliche Nähe auf. Diese Vorteile haben slowenische und in weiterer Folge auch kroatische Firmen erkannt, die in immer stärkerem Ausmaß im ehemaligen Jugoslawien investieren. Diese Investitionen werden wohl keine Einbahnstraße bleiben, wenn auch die anderen Staaten größere Reformerfolge vorweisen können. Daraus wird kein neues Jugoslawien entstehen, denn diese Idee ist ebenso tot wie Tito. Seine abschließende historische Bewertung durch „seine“ ehemaligen Völker steht zwangsweise noch; zu groß sind die Probleme des Alltags, zu gering ist der historische Abstand, und Tito und sein Staat sind derzeit offensichtlich kaum Gegenstand seriöser historischer Forschung. Offen bleibt daher, wie die massenhaften Verbrechen dereinst bewertet werden, die Titos Kommunisten während des Zweiten Weltkriegs und danach begangen haben. Dabei geht es nicht um die Frage der Verbrechen an sich, sondern darum in welchem Ausmaß sie das Bild des erfolgreichen Staatsmanns prägen werden, der den „Jugoslawen“ in den 1970er Jahren ein hohes Maß an Wohlstand aber auch an relativer Freiheit beschert hat. Sicher ist, dass Tito und seine Nachfolger mit ihrem Konzept gescheitert sind, und damit einen weiteren Beweis dafür geliefert haben, dass sich mit Zwang auf Dauer kein Staat zusammenhalten lässt. Historisch betrachtet erwies sich auch Jugoslawien als eine der vielen Fehlkonstruktionen, die die Westmächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu verantworten haben. Möglich sind jedoch Zusammenwachsen und Aussöhnung unter dem Dach von EU und NATO; auf diese Weise könnte auch die Nationalitätenfrage endgültig gelöst oder weitgehend bedeutungslos werden, die dem Balkan am Ende des 20. Jahrhunderts zum zweiten Mal binnen 50 Jahren einen Bürgerkrieg und einen Sezessionskrieg bescherte und das ehemalige Jugoslawien hoffentlich zum letzen Mal zum Kriegsschauplatz werden ließ.
Anmerkungen
1) Interview des Autors mit dem slowenischen Historiker Mitja Ferenc in Laibach am 13. November 2007. Nachzulesen sind die Berichte über die Massengräber in Slowenien auch unter „www.wehrschuetz.at (Mittagsjournal „Slowenien und die Massengräber nach dem Zweiten Weltkrieg; siehe dazu auch auf der Webseite: „Wissen Aktuell“ vom März 2005, Bericht über die Ausstellung: „Slowenien zwischen Hakenkreuz und Tito-Stern“ in Laibach)
2) GRIESSER PEČAR, Tamara: „Cerkev na zatožni klopi“, Družina 2005, Laibach
3) Bericht an die „Heilige Erzversammlung“ (Sveti Arhijerejski Sabor), 27/14. März 1947. Der Bericht liegt beim Patriarchat der Orthodoxen Kirche in Belgrad auf.
4) Dazu zählt die Ausstellung in Laibach im Mai 2005 mit dem Titel „Med kljukastim križem in rdečo zvezdo“. Ihr deutscher Titel lautete in einer etwas freieren Übersetzung „Unter Hakenkreuz und Titostern“
5) NEUBACHER, Hermann: „Sonderauftrag Südost 1940–45“, S. 148; Musterschmid Verlag, Göttingen, 1956. Das Buch liegt seit einigen Jahren auch in serbischer Übersetzung vor.
6) Ebenda S. 143
7) MIHAILOVIĆ, Kosta / KRESTIĆ, Vasilije: „Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Stellungnahmen zu Kritiken“, S. 151;