Miriam Rademacher

Der Tanz des Mörders


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      »Ich nehme einen Weißwein auf Ihre Rechnung Herr Pfarrer, und das ›hässlich‹ nehmen Sie gefälligst zurück.«

      »Herr Wirt! Einen Weißwein und drei Pfeile für unsere hübsche kleine Freundin. Sie verlieren doch gegen mich, nicht wahr?« Norma zuckte mit den Schultern, was als Einverständnis gewertet wurde.

      »Wie erträgst du nur Mrs Summers’ Gehässigkeiten, Norma?«, wollte Colin wissen.

      In der letzten halben Stunde hatte Colin eine Menge über Norma erfahren. Er wusste jetzt, dass sie ganze 151 Zentimeter groß war, die Beatles und Zuckerwatte liebte, und dass rosa Haare nur ihrer derzeitigen Stimmung entsprachen. »Wenn ich allerdings noch lange Mrs Summers pflegen muss, sind sie bald feuerrot«, hatte sie lachend verkündet. Jetzt machte sie ein ernstes Gesicht und dachte gründlich über Colins Frage nach.

      »Ich höre ihr zu, mache mir aber bei jeder Klatschgeschichte bewusst, wie gering der Anteil an Wahrheit darin sein kann. Mrs Summers ist keine böse Frau. Sie ist dumm und oberflächlich, aber nicht wirklich böse.«

      »Sie kümmert sich gewissenhaft um den Blumenschmuck in der Kirche«, ergänzte Jasper.

      »Sie hat eine scharfe Zunge und spottet gern – und wenn schon. Es gibt Schlimmeres«, sagte Norma leichthin, doch Colin konnte ihr nicht beipflichten. In seinen Augen war Mrs Summers eine gefährliche Frau. Worte konnten tief verletzen. Ein böses Gerücht mit einem Körnchen Wahrheit ließ sich nur schwer aus der Welt schaffen. Und das Körnchen Wahrheit sammelte Mrs Summers mit Hilfe ihres Fernglases ein.

      Er war schon einige Male auf Menschen wie Mrs Summers gestoßen. Es war die einzige Art Mensch, die ihn wirklich wütend machte. Dumm, geschwätzig und voller Vorurteile. Es fiel ihm schwer, in Gegenwart einer Mrs Summers ruhig zu bleiben. Argumente waren bei den Mrs Summers dieser Welt sinnlos und wurden höchstens belächelt. Aber ihre Bosheiten hängten sich wie Kletten an ihre armen Opfer und ihr Gift schwängerte noch Stunden nach ihrem Abgang jeden Raum.

      »Es macht dir nichts aus, wenn sie dich öffentlich als Trinker brandmarkt?«, wandte sich Colin an Jasper.

      Jasper hob sein Glas und prostete ihm feixend zu. Colin konnte nicht anders, als ihn für diese Haltung zu bewundern.

      »Und dieser Junge, der sich erhängt hat? Findet ihr es in Ordnung, wenn sie über ihn spottet? Und diese Namen mit denen sie ihre Nachbarn tituliert? ›Heulsuse‹ und ›Spinner‹, und wie sie alle heißen?«

      »Darüber«, antwortete Jasper und lehnte sich zurück, »können sich Heulsuse und Spinner aufregen, wenn sie möchten. Allerdings ist nicht gesagt, dass sie von diesen Kosenamen je erfahren werden. Ich weiß zumindest nicht, wie sie mich tituliert, und es hat mir auch keiner zugetragen. Mrs Summers geht wohl davon aus, dass du diese Namen nicht wirst zuordnen können.«

      »Noch nicht. Aber eines Tages vielleicht. Und dann ärgert es mich mit Sicherheit noch mehr«, brummte Colin, doch Norma lachte ihn aus.

      »Was hast du gedacht, als du mich heute zum ersten Mal gesehen hast?«

      Colin fühlte, wie er errötete.

      »Siehst du? Wir alle denken in Schubladen, es macht unser Leben einfacher. Doch manche von uns verwenden freundlichere Etiketten als Mrs Summers.«

      Samba

      Nicht du tanzt sie, sondern sie tanzt dich

      »Nur noch einmal hat er gesagt. Bitte. In Ordnung. Einmal noch«, sagte Colin zu sich selbst, als er im Frühnebel die Straße zu Mrs Summers’ Haus hinaufstieg.

      Natürlich war der Pfarrer aus allen Dartspielen des vergangenen Abends als Sieger hervorgegangen. Und natürlich war Colin wieder zur Einlösung eines Spieleinsatzes verpflichtet worden. Wenigstens Norma freute sich auf seinen erneuten Besuch im Cottage. Sicher war sie schon da und half der garstigen Alten auf die Récamiere.

      Colin schritt langsam und bedächtig voran. Seine Rückenschmerzen hielten sich an diesem Morgen in Grenzen, aber er wollte, dass es auch so blieb. Als das Cottage in seinem Sichtfeld erschien, wäre er am liebsten wieder umgedreht, aber »ein Mann ein Wort«, sagte er sich, schritt über den Gartenweg und klopfte an die Tür. Stille. Er klopfte erneut. Im Innern des Hauses schlug einer der drei Spaniels an. Sonst rührte sich nichts.

      »Norma? Mrs Summers?«

      Keine Antwort. Colin beschlich ein seltsames Gefühl. Sicher konnten die beiden Frauen ein Taxi zum nächsten Arzt genommen haben. Möglicherweise ging es der alten Dame nicht gut. Doch hätte Norma ihm dann nicht eine Nachricht hinterlassen? Eine Notiz an der Haustür?

      Colin klopfte ein weiteres Mal, und als sich wieder nichts außer dem Hund regte, drückte er die Klinke nieder und stellte fest, dass die Tür unverschlossen war.

      Er trat in den Flur. Sein Unbehagen wurde stärker.

      »Norma? Mrs Summers?«

      Die Tür des Wohnzimmers wurde aufgeschoben und ein aufgeregt mit dem Schwanz wedelnder Spaniel tapste auf Colin zu. Er ging in die Hocke und kraulte den Dicken hinter den Ohren.

      »Wo sind denn Frauchen und Norma, hm?«

      Der Spaniel rollte sich auf den Rücken und präsentierte Colin sein Bäuchlein.

      »Nein, ich werde dich nicht weiter streicheln, ich werde mich jetzt mal hier drinnen umsehen. Irgendetwas stimmt hier nicht, ich kann es fühlen.«

      Mit diesen Worten erhob er sich, stieg über den Hund hinweg und betrat das Wohnzimmer. Es sah aus wie am Tag zuvor. Auf dem Cordsofa lagen zwei faule Spaniels und zuckten mit den Lidern. Colin sah hinüber zum Wintergarten und hielt überrascht inne. Mit dem Rücken zu ihm saß in jenem Korbsessel, in dem er gestern gesessen hatte, Mrs Summers. Ihr violetter Hinterkopf ragte leicht über die Lehne und eine Hand hing kraftlos herab. Sie schien zu schlafen. Irritiert bemerkte Colin einen ungewöhnlich großen Ohrschmuck an ihrer rechten Kopfseite.

      »Mrs Summers?«

      Langsam trat er näher. Einer der Hunde gab ein leises Winseln von sich.

      Colin hatte schon viele Krimis im Fernseher verfolgt und oft schien ihm der Moment, in dem die Leiche entdeckt wurde, schlecht umgesetzt worden zu sein. Doch jetzt spielte es sich alles genau so ab, wie er es schon aus der Zuschauerperspektive erlebt hatte. Er sah und roch das Blut, bemerkte die schreckgeweiteten, leblosen Augen und fühlte, wie sein Gehirn in einen Stand-by-Modus wechselte. Er vergaß zu atmen. Er vergaß zu blinzeln. Und in dem Moment, in dem sein Körper sich wieder seiner Pflichten erinnerte, schrie er, wie er seit Kindertagen nicht mehr geschrien hatte.

      Er schrie noch eine Weile weiter, bis er begriff, dass niemand da war, um ihn fürsorglich in die Arme zu schließen und ins Freie zu führen. Irgendwann verstummte er und starrte auf das geronnene Blut auf Hals und Bluse, starrte auf die Mordwaffe, die noch immer in Mrs Summers’ rechtem Ohr steckte. Der rote Zeiger stand auf Huhn. Mrs Summers’ seltener Ohrschmuck war ein Bratenthermometer, das tief in ihren Schädel eingedrungen war, und die gut zehn Zentimeter lange Metallspitze kratzte vermutlich gerade an einer Gehirnwindung.

      Colin fühlte Übelkeit in sich hochsteigen und endlich fielen ihm auch seine Beine wieder ein. Er rannte in Richtung Haustür, stolperte fast über den immer noch im Flur liegenden Hund und stieß frontal mit Norma zusammen, die gerade, mit Einkaufstaschen beladen, hereinkam.

      »Lieber Himmel, Colin! Was hat Mrs Summers Dir angetan? Oder war der Tee wieder zu heiß?«

      »Sie ist tot! Oh mein Gott, Norma! Sie ist tot!«

      Norma schüttelte traurig den Kopf. »Ja, das ist eine schlimme Sache. Armes Ding. So grausam ermordet zu werden. Ich persönlich tippe ja auf einen Sexualmörder.«

      »Was?«

      »Man weiß natürlich noch nichts Genaues, aber du wirst sehen: Die Untersuchung wird mir Recht geben.«

      »Was??«