sie aber nicht.
Am Horizont taucht eine graue Betonmauer auf, die sich über die gesamte Flussbreite spannt, flankiert von Türmen und großen Gebäuden, und ich binde das Boot an der ersten der eisernen Leitern in der langen Kaimauer am linken Ufer fest, klettere hinauf und sehe auf einem kurzgeschnittenen Rasen ein Schild stehen. »Zur Schleusung über Sprechstelle melden. Weisung über Lautsprecher abwarten«, steht darauf, aber ich gehe erst einmal nach vorn. Dort steht ein Turm mit einer verglasten Kanzel, der aussieht wie ein Flughafentower, und über dem breiten Doppelflügeltor der Schleuse leuchtet eine rote Ampel. Hinter der Anlage ergießt sich das Wasser neben dem Schleusenbecken rauschend und donnernd über eine etwa fünf Meter hohe Staumauer.
Ich gehe zurück und neben dem Schild hängt an einem Pfahl unter einem kleinen Dach ein altertümliches Telefon.
Ich hebe den Hörer ab und es klingelt.
»Grüß Gott!«, sagt eine Männerstimme.
»Guten Tag!«, sage ich. »Ich möchte geschleust werden, mit meinem Paddelboot, geht das?«
»Jaja, das geht«, antwortet der Mann. »In fünfzig Minuten kommt ein Frachter. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, fährt zuerst das große Schiff in die Schleuse, danach rufe ich Sie aus und dann kommen Sie in die Kammer.«
»Danke!«, sage ich und lege auf.
Das scheint ja doch ganz einfach zu sein und gar nicht so kompliziert wie ich befürchtet hatte, und ich setze mich unter einen Baum in den Schatten und warte auf das Schiff.
Nach einer knappen Stunde kommt der Frachter und legt an der rechten Kaimauer an, ich stehe auf und sehe zur Ampel. Das Tor zur Schleusenkammer öffnet sich und die Ampel schaltet auf Grün, das Schiff fährt hinein und ich klettere die Leiter hinunter, steige ins Boot und mache die Leinen los.
»Das Ruderboot jetzt bitte in die Schleusenkammer einfahren!«, ertönt es aus einem Lautsprecher und ich paddle los. In der Kammer halte ich mich an einer in die Mauer eingelassenen Eisenleiter fest und hinter uns schließt sich quietschend und rumpelnd das schwarzstählerne Tor.
Das Schiff neben mir ist die »Doria«. Unter der Brücke liegen die Kabinen, in den Fenstern hängen Spitzengardinen, stehen Blumentöpfe und kleine Gartenzwerge aus Ton. Die »Doria« sieht beinahe so aus wie ein stählernes, weißgestrichenes, schwimmendes Einfamilienhäuschen und auf dem flachen Dach steht ein frischgeputzter, silberfarbener Mercedes.
Nach einer Weile beginnt der Wasserspiegel zu fallen. Langsam und Zentimeter für Zentimeter und Meter für Meter sinken wir immer tiefer. Die Mauer neben mir ist nach einer halben Stunde etwa fünf Meter hoch, nass und mit Algen bewachsen, und die Leiter, an der ich mich festhalte, ist glitschig. Aus kleinen Vertiefungen in der Wand tropft Wasser.
Das vordere Tor öffnet sich und wieder schaltet eine Ampel von Rot auf Grün. Hinter der »Doria« schäumt grünlichweiß das Wasser auf und sie fährt hinaus. Nach einer Weile, als sich das Wasser wieder beruhigt hat, folge ich ihr. Der Fluss fließt nun wieder, über etliche Kilometer steht dichter Auwald an beiden Ufern und als er sich lichtet, kann ich am linken Horizont schon hellblau die Berge des Bayerischen Waldes erkennen.
In einer Bucht mit Kiesstrand und einem schmalen Streifen Wiese, umgeben von Wald, baue ich das Zelt auf und zünde ein kleines Feuer an. Es ist ganz still, nur ein paar wenige Vögel zwitschern und das Feuer knackt leise. Ich sitze auf einem Stein und sehe über den Fluss und auf das gegenüberliegende Ufer, wo die Bäume in der Abendsonne leuchten. Ein Schwarm kleiner Fische steht im klaren Wasser in Ufernähe, ein Biber schwimmt an der Bucht vorbei, er scheint mich nicht zu bemerken und aus der Ferne ist leise das Motorengeräusch eines flussaufwärts fahrenden Lastkahns zu hören, das langsam näher kommt.
Am Bug der »Phoenix«, der Name steht in lateinischen und in kyrillischen Buchstaben an der weißen Schiffswand, hängt die deutsche, am Heck die weiß-grün-rote bulgarische Flagge. Vor das Schiff ist, wie ein Anhänger an einen LKW, ein Schubleichter gekoppelt, ein voll beladener Lastkahn ohne Brücke und Motor, eine schwimmende Wanne aus rostrotem Stahlblech.
Ich sitze am Ufer und habe Muskelkater in den Armen und den Händen. Die Finger, die den ganzen Tag das Paddel gehalten haben, krümmen sich auch jetzt am Abend noch und es fällt ein wenig schwer, sie gerade auszustrecken.
Ich habe einen Sonnenbrand und morgen, denke ich, morgen werde ich mir in Straubing Sonnencreme und einen Hut kaufen, mache mir ein paar Notizen und schreibe die Erlebnisse der ersten beiden Tage in meine Kladde.
IN DER STAUSTUFE STRAUBING, lese ich am Morgen im Wasserwanderführer, wird nur die Großschifffahrt geschleust, für Kanufahrer gäbe es stattdessen eine »leicht bedienbare Bootsgasse«, was immer das auch sein mag. Aber ich kann die Skizze im Buch schon etwas besser verstehen als gestern und fahre zur Bootsgasse neben der Schleuse.
Eine Öffnung ist mit einem Brett versperrt, neben dem Brett hängt an einem Pfosten eine Kette wie an einer altertümlichen Klospülung und auf einem Schild steht »Bootsgasse. Bitte ziehen«. Ich ziehe an der Kette, das Brett senkt sich und macht den Blick frei auf eine vielleicht zwanzig Meter lange, steile Rinne, etwa zweieinhalb Meter breit, durch die nun Wasser fließt. Die Bootsgasse.
So muss ich wenigstens nicht darauf warten, dass ein großes Schiff kommt, mit dem ich geschleust werden kann, denke ich und fahre vorsichtig hinein. Der Bug senkt sich, das Boot gleitet durch den Kanal und Wasser spritzt mir ins Gesicht, es ist ein bisschen wie Achterbahn fahren und kurz darauf schwimmt das Boot fünfeinhalb Meter tiefer im Fluss.
Jetzt sind es genau einhundert Kilometer bis zur Schleuse Kachlet und bis zum Beginn des Rückstaus fließt das Wasser nun auf achtzig Kilometern frei. Zwischen Straubing und Vilshofen liegt das letzte, größere, unverbaute Stück Donau in Deutschland.
In Straubing scheint eine flache, steinerne Rampe ein guter Anlegeplatz zu sein, aber seltsamerweise liegt die Rampe verkehrtherum im Fluss. Ich muss wenden und gegen die Strömung auf sie hinauffahren. Doch das geht ganz leicht und ich muss nur ein wenig schneller sein als die Strömung, schon lässt sich das Boot erstaunlich gut manövrieren und ich schlittere nicht mehr mit der Fließgeschwindigkeit über die Steine, sondern gleite ganz langsam und sacht ans Ufer. Nicht die Rampe liegt also verkehrt im Fluss, sondern ich bin bisher in die falsche Richtung an Land gefahren.
Der Bootsrumpf sitzt auf, ich springe heraus und hole mir, zum ich weiß nicht wievielten Male, nasse Füße.
Alle zwei bis drei Stunden fahre ich an Land und Wellen schwappen ans Ufer, das manchmal fest, manchmal sandig und manchmal schlammig ist, ich muss aussteigen und das Boot ein Stück weit an Land ziehen, ich stehe im Wasser und trocken bleiben die Füße beim Ein- und Aussteigen eigentlich nie.
Ich gehe hinauf in die Stadt und auf der Straße hinterlasse ich die feuchten Abdrücke meiner Sandalen, die in der Sonne schnell wieder trocknen.
In Straubing kaufe ich Sonnencreme und mache mich auf die Suche nach einem Sonnenhut. Am besten wäre ein ganz einfacher und billiger Strohhut, denke ich, aber ich weiß nicht, wo man so etwas bekommt.
In einem Laden in der Innenstadt gibt es Herrenhüte aus Filz, Schiebermützen und Jägerhüte ab fünfzig Euro und in einer Drogerie eine Art gehäkelte Omahütchen mit schmaler Krempe, die aber nur fünf Euro kosten. Auf dem Wasser sieht mich ohnehin niemand, denke ich, nehme ein Hütchen und lasse mir eine Tüte geben.
Dann gehe ich weiter und sehe ein Geschäft für billige Kleidung, eine Discounter-Kette. Dort gibt es Strohhüte für drei Euro und ich kaufe einen, werfe die Tüte mit dem Omahut schnell in den nächsten Papierkorb, gehe zurück zum Boot und fahre weiter.
Es ist eigentlich ganz hübsch, denke ich, mit dem Boot unterwegs zu sein. Straubing ist ein schönes Städtchen, aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, extra hierher zu fahren, um es mir anzusehen. So aber, ich fahre am Tag nur dreißig oder vierzig Kilometer, halte ich in Orten, die ich, reiste ich anders, schneller, nie kennenlernen würde.
Manchmal, wenn ich im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, wünsche ich mir, auszusteigen und in die Städte und Dörfer zu gehen, die links und rechts der Strecke liegen. Wer wohnt