dadurch in Frage gestellt, dass zahlreiche Personen und Ereignisse – nicht bloß des Frühmittelalters – zu verschiedenen Zeiten vorkommen. Das spricht gegen Fälschung. Die 297 Jahre von Illig passen, doch er hat die falschen Schlüsse daraus gezogen bzw. die richtige Spur nicht erkannt.
Die Phantomzeitthese hat ohne Zweifel dazu beigetragen, Schwachstellen unseres Chronologiesystems aufzuzeigen und zu kritischen Diskussionen anzuregen. Ihrer Widersprüche und Ungereimtheiten ist sich auch ein so kundiger Mann wie Prof. Heinsohn bewusst. Es ist also kein Zufall, dass er sich dafür entschied, die von ihm erkannten Unwahrscheinlichkeiten genauer unter die Lupe zu nehmen und in seinem neuen Buch „Wie viele Jahre hat das erste Jahrtausend" sich daran machte, bessere Erklärungen zu bieten. Zentrales Problem dieses Werkes ist es aber, dass Illigs These nicht in Frage gestellt wird und echte Alternativen zur erfundenen Zeit von Illig nicht sichtbar werden.
Eine völlig neue Perspektive zur These von der 'erfundenen' Zeit bietet nun das hier vorliegende Buch des Physikers Hans-Erdmann Korth. Dieser wendet konsequent naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden auf die Analyse der Chronologie an. Er erklärt die Widersprüche des geltenden Chronologiesystems damit, dass es i.W. zwei Arten der Jahreszählung gibt, nach Inkarnationsjahren (AD), sowie nach unserer Zeitrechnung (u.Z.). Korth weist an zahlreichen Beispielen nach, dass gleiche bzw. gleichwertige Ereignisse in den beiden Systemen mit einer zeitlichen Differenz von etwa 300 Jahren doppelt notiert wurden. Gleiches gilt für viele duplizierte Personen, bei denen es sich zumeist um Regenten handelt, die oft sogar mit gleichen Namen in den Quellen erscheinen, nicht selten sogar die gleiche Anzahl von Regierungsjahren aufweisen und auch an den gleichen Orten gelebt haben.
Es bleibt abzuwarten, welche weiteren Erkenntnisse sich aus dem Vergleich der Werke von Dr. Illig, von Prof. Heinsohn und Hans-E. Korth ergeben. Objektiven Lesern bleibt es vorbehalten, die Pro- und Contra-Argumente dieser drei Abhandlungen gegeneinander abzuwägen. Es war ein besonderes Desiderat der Chronologieforschung, dass endlich einmal einer wie Korth sich auf den Weg machte, naturwissenschaftliche Methoden kritisch auf einen Sachverhalt anzuwenden, welcher lange – buchstäblich jahrhundertelang – verdrängt und vernachlässigt worden ist.
Wilhelm Kaltenstadler 26. Juni 2013
Vorwort
»Um zwischen der Scylla vorgefasster Meinungen und der Charybdis des Wunschdenkens heil hindurchzusteuern, dazu gehört Glück.« 1
In diesem Buch geht es um die Unstimmigkeiten in der überlieferten Geschichtsschreibung. Aber ist jene denn nicht bestens gesichert? Sind nicht allenfalls noch kleinere Korrekturen durch hochspezialisierte Historiker zu erwarten? Zweifel am Verlauf der Geschichte erscheinen zunächst absurd. Wer sollte sie auch ernst nehmen? Was aber, wenn unser Geschichtsbild tatsächlich auf einem Irrtum beruht?
Vor nun schon mehr als einem Jahrzehnt kam mir zufällig die Taschenbuchausgabe von Das erfundene Mittelalter in die Hände. Der Verfasser H. Illig lieferte dort vielfältige Begründungen für seine These, wonach die Überlieferungen des frühen Mittelalters keiner realen Zeit, sondern einer Art Phantomzeit angehörten. Einen überzeugenden Grund dafür, wie es zu diesem Bruch gekommen wäre, konnte er jedoch nicht angeben. Das klang doch sehr nach Verschwörungstheorie. Sollte sowas möglich sein? Bei mir überwogen die Zweifel.
Als Experimentalphysiker hatte ich gelernt, technische Tatbestände abzuklären. Aussagekräftige, mit Hilfe geeigneter Versuchsanordnungen gewonnene Messdaten lieferten mir dabei die gesuchten Antworten. War Illigs seltsame These falsch, das war mir sogleich klar, so wäre dies leicht nachzuweisen: Holzproben aus geschichtlicher Zeit, an denen sich sowohl das Alter, wie auch die Anzahl der seit ihrer Entstehung vergangenen Jahre anhand des C14-Gehaltes und der Jahresringe bestimmen lässt, waren ja in großer Zahl untersucht worden. Zeigte sich zwischen deren Alter und der Jahreszählung eine annähernd geradlinige Beziehung, so war Illigs These widerlegt – kurz und schmerzlos.
Knapp zwei Jahre später – so vorrangig erschien mir seinerzeit das Thema Geschichte nun auch wieder nicht – kam ich auf diese Überlegung zurück und besorgte mir die im Internet frei verfügbaren Daten der Kalibrierkurve für das Radiokarbon-Alter. Diese sog. IntCal1-Kurve dient dazu, mit Hilfe von C14-Messungen ermittelte Alterswerte auf die Jahreszahlen der Dendrochronologie umzurechnen. Über Jahrtausende folgen die Messwerte tatsächlich recht gut einer Geraden. Zu meiner Verblüffung jedoch nur bis zum Mittelalter. Zur Gegenwart hin verlängert, erscheinen sie dagegen um drei Jahrhunderte versetzt – gerade so, wie es auch Illigs These erwarten ließe!
Die Bestätigung der geläufigen Jahreszählung war also erst einmal gescheitert. Aber meine Neugier war geweckt. Ich machte mich bald daran, weitere Informationen über plausible Zeitmarken zusammenzutragen, was sich als äußerst spannende Beschäftigung erwies. Kaum jemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, physikalische Zeitreihen auf die mögliche Übereinstimmung mit Illigs These hin zu untersuchen. Der Geschichtswissenschaft, überzeugt von ihrer über jeden Zweifel erhabenen Chronologie, dienten Absolutdatierungen ja allein zur Einschätzung der Verlässlichkeit ihrer Quellen und ihrer Hilfswissenschaften. Bei widersprüchlichen Befunden ließ sich dort stets eine halbwegs akzeptable Erklärung finden.
Ich wollte dagegen nach naturwissenschaftlich belastbaren Daten suchen. Dabei kamen mir die durch das Internet so dramatisch verbesserten Möglichkeiten der Recherche zu Gute. Sie führten im Lauf der Zeit zu unerwartet vielen hochinteressanten Funden und Verknüpfungen. Diese konnte ich dann in der Württembergischen Landesbibliothek sowie den Bibliotheken der Universitäten Stuttgart und Hohenheim überprüfen und vertiefen. Dort hatte ich umfassenden Zugriff auf Fachliteratur und Fachzeitschriften.
Hinzu kam über etliche Jahre hinweg der praktisch wöchentliche Austausch mit den Historikern Professor W. Kaltenstadler und Dr. M. Neusel, die aufgrund vieler widersprüchlicher Überlieferungen ebenfalls schon seit Längerem die traditionelle Chronologie äußerst skeptisch sahen. Dadurch ergab sich eine äußerst fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit, in der immer neue Beobachtungen diskutiert und in vielerlei Ansätzen auf ihre Plausibilität hin untersucht wurden. Auf diese Weise gelang es, die auf Überlieferungen und ihrer Glaubwürdigkeit basierende Methodik der Geschichtsschreibung mit dem auf wiederholbaren Messungen fußenden Ansatz der ergebnisoffenen naturwissenschaftlichen Überprüfung zusammen zu führen.
In diesem Buch, das als Produkt unserer Untersuchungen entstand, möchte ich Ihnen die Widersprüche der überlieferten Jahreszählung darstellen, von denen etliche schon seit Jahrhunderten ernsthaften Forschern aufgefallen waren, ohne dass sie dazu überzeugende Erklärungen hätten liefern können.
Alsdann sollen die Fakten dargelegt werden, die sich aus der Verknüpfung verschiedener Zeitreihen untereinander und gegenüber der Geschichtsschreibung ergeben. An ihnen ließe sich nur zweifeln, wenn die naturwissenschaftliche Methodik zur Disposition gestellt würde.
Schließlich möchte ich mich an eine Erklärung wagen, welche die mögliche Abfolge der Ereignisse des Frühmittelalters bei kritischer Würdigung der Überlieferung darstellt und das unlösbare Dilemma aufzeigt, dem die Protagonisten des Mittelalters gegenüber standen. Selbst wenn sich ein Wahrheitsbeweis prinzipiell nicht erbringen lässt: Meine naturwissenschaftlich untermauerte These enthält (wie es scheint) keine offenkundigen Widersprüche – ganz im Gegensatz zur überkommenen Geschichtsschreibung, aber auch zu den anderen Versuchen, die Überlieferungen zu erklären.
Jeder mag seine eigenen Schlüsse daraus ziehen. Für mich gilt: Das alte Paradigma einer intakten Jahreszählung, auf dem unser Geschichtsbild beruht, ist nicht mehr haltbar.
Aber überzeugen Sie sich davon bitte selbst!
Porto Valtravaglia, im Juni 2013
Die Zeit
»Wenn denn Vergangenheit und Zukunft sind, so möcht ich nun auch wissen, wo sie sind...«
Augustinus, Confessiones1