Ganze kann eine Falle sein. Am besten, er holt die Polizei.
Braun weiß, wo sich das Grünauer Polizeirevier befindet. Er wendet und fährt mit hoher Geschwindigkeit zum Bahnhof zurück, biegt rechts in die Wilhelmstraße ein und hält eine Minute später vor dem Revier 243 in der Mittelstraße.
Zehn Minuten später haben die Beamten die Gewissheit, dass es sich um das Dienstfahrrad ihres Kollegen Herrmann handelt, der um sechs Uhr abends zu einer zweistündigen Streifenfahrt aufgebrochen ist. Im Licht der Scheinwerfer ihres Einsatzwagens dringen die Beamten in den Wald ein und werden schon nach wenigen Metern fündig. Vor ihnen liegt die Leiche des Kollegen. Die Pistolentasche ist geöffnet, die Waffe findet sich in unmittelbarer Nähe der Leiche. Ein Selbstmord? Daran wollen die Kameraden des als besonnen geltenden Oberwachtmeisters nicht glauben.
Als Gennats Spezialisten am nächsten Morgen eine gründliche Spurensuche vornehmen, ist klar, dass der Polizist nicht durch einen Schuss aus der eigenen Waffe umgekommen ist.
Handelt es sich bei dem Täter oder den Tätern um die Landstraßenräuber, oder ist Herrmann einem eher zufälligen Verbrechen zum Opfer gefallen? Diese Frage bewegt Kommissar Kappe, als er in den frühen Morgenstunden des Gründonnerstag neben seinem alten Kollegen Galgenberg zwischen den Kiefern herumstapft.
«Das war vorauszusehen!» Galgenberg spielt mal wieder den nachträglichen Propheten. «Wer so ungeniert wie die beiden in der Gegend rumballert, trifft früher oder später auch mal einen.»
Dazu schweigt Kappe. Kommissar Busch vom Einbruchsdezernat, der die Ermittlungen gegen die Straßenräuber führt, predigt schon seit Wochen das Gleiche. Bisher hat das Morddezernat nichts mit den Fällen zu tun gehabt, obwohl es bereits im Juni 1935 im Grunewald zu einem ersten Schusswaffengebrauch gekommen war. Versuchter Mord - so was kam öfter mal vor. Außerdem hat man es im Polizeipräsidium lange nicht für möglich gehalten, dass es sich bei den Liebespärchen-Räubern im Westen um die gleichen Täter wie bei den Autofallen im Osten handeln könnte. Bis zu fünfzig Kilometer liegen die Tatorte auseinander. Seit Dezember 1936 muss dennoch als sicher gelten, dass Kommissar Busch recht hat: Die beiden Räuber - und mehr als zwei Maskierte sind nirgendwo aufgetreten - haben im Grunewald wie auf der Reichsstraße 1 mit der gleichen Waffe geschossen, vermutlich ein Trommelrevolver älterer Bauart mit glattem Lauf. Allerdings verfügen sie seit dem vergangenen Sommer über eine zweite Waffe, die bei einem weiteren Raub am Kleinen Stern erbeutete Walther PPK 7,65 Millimeter.
Kein Wunder, dass die Spurensuche im Grünauer Forst besonders gründlich ausfällt. Mit Erfolg. Die aus Herrmanns Dienstpistole abgeschossene Kugel wird gefunden. Vier weitere Patronen aus der Waffe, die nach dem ersten Schuss eine Ladehemmung hatte, liegen verstreut auf dem Waldboden. Außerdem findet sich eine Hülse 7,65 Millimeter, zu der die Bleikugel passt, die der Gerichtsmediziner aus Herrmanns Wirbelsäule herausoperierte.
Am Nachmittag des Gründonnerstag sitzt Prof. Dr. Brüning in der Preußischen Landesanstalt für Chemie lange vor dem Mikroskop und vergleicht immer wieder die Spuren an den Geschossen miteinander, die aus drei verschiedenen Überfällen stammen. Am Ende seiner Untersuchungen hat er keinen Zweifel mehr: Alle drei Geschosse sind mit der gleichen Waffe abgefeuert worden.
Als er sein Ergebnis dem Kriminalrat Gennat durchgibt, dem legendären Mordkommissar vom Alex, schnauft der beleibte Mann nur ärgerlich. «War nicht anders zu erwarten. Jetzt haben wir das dicke Ei im Nest.»
WEISSE OSTERN
«IST ES GRÜN zur Weihnachtsfeier, fällt Schnee auf die Ostereier», zitiert Hermann Kappe beim Familienfrühstück am Ostersonntag. Weihnachten 1936 war grün ausgefallen, jetzt bläst der kalte Ostwind tatsächlich ein paar Schneeflocken in den engen Hof in der Frankfurter Allee, auf den man aus dem Küchenfenster blickt. Wahrscheinlich will Kappe sich damit trösten, denn ursprünglich hatten sie ja vorgehabt, raus in die Müggelberge zu fahren, um dort die Ostereier für die Kinder zu verstecken. Doch Margarete, mit ihren neunzehn Jahren eigentlich schon zu alt für den BDM (und für das Ostereiersuchen natürlich auch), unternimmt mit ihrer Mädelschaft eine Heimatwanderung durch die Neumark, und für Kappe ist über die Feiertage Bereitschaftsdienst angesetzt. Draußen in Müggelheim und überall sonst, wo die Straßenräuber schon mal aufgetaucht sind, dürfen frierende Beamte aller Schattierungen Streife laufen und fahren. Die Osterspaziergänger werden die Wälder meiden, nachdem überall die Fahndungsplakate für den Mörder des Polizeioberwachtmeisters Herrmann hängen.
Sogar Klara Kappe, sonst nicht die Ängstlichste, macht sich diesmal Sorgen um ihren Angetrauten. «Deine gewöhnlichen Mörder erschießen mal einen, und damit ist es gut», sagt sie altklug.
«Aber die hier sind ja richtig gefährlich. Man müsste solche Berufsverbrecher ein für alle Mal wegsperren, das wäre das Beste!»
Und dir ein für alle Mal den Mund zu solchen Themen verbieten, das wäre das Allerbeste, denkt Kappe grantig. Nicht genug, dass er sich solche Sprüche im Präsidium tagtäglich anhören muss – jetzt fängt es auch schon in der eigenen Familie an. Als wären alle sogenannten Berufsverbrecher Mörder und alle Mörder von vornherein Berufsverbrecher!
«Wir haben in unserer Rotte darüber gesprochen», fängt nun auch Hartmut an zu klugscheißen. «Wenn man uns mit scharfen Waffen ausrüsten würde, könnten wir die Waldgebiete generalstabsmäßig durchkämmen und würden die Mörder bestimmt fangen.»
«Und euch dabei gegenseitig totschießen oder verwunden!», sagt Kappe. «Du wirst noch früh genug an scharfen Waffen ausgebildet werden.» Rotte, wie das schon klingt! Dass aus seinem Sohn mal ein Oberrottenführer wird, hat er sich nie vorgestellt. Und der zehnjährige Karl-Heinz gehört bei den Pimpfen einer Horde an!
Hartmut gibt nicht auf. «Wenigstens einen Tesching könntest du mir bewilligen», murrt er.
Da lacht sogar der Kleine. «Damit kannste höchstens auf Spatzen schießen, aber keine Verbrecher jagen!» Um Zustimmung heischend, sieht Karl-Heinz seinen Vater an.
Der sagt: «Schluss mit dem Thema! Heute ist erster Osterfeiertag, da schweigen alle Waffen.»
Jedenfalls möchte er das gerne. Das Bild des erschossenen Kollegen geht ihm nicht aus dem Sinn. Wer will schon so enden? Ein Beifahrer, den die Räuber im November angeschossen und ausgeraubt hatten, war erst vor drei Wochen als Invalide aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und am 19. Februar, fünf Wochen nach dem Spektakel von Hangelsberg, hatten die Autoräuber wieder mit größter Dreistigkeit eine Baumfalle errichtet. Acht Fahrzeuge sammelten sich auf beiden Seiten, doch die Räuber blieben unsichtbar - verscheucht vom ersten Pkw mit einer Polizeinummer. Seitdem hatten sie sich noch nicht wieder gerührt.
Für die Kriminalgruppe M ist das Jahr 1937 anfangs ruhig verlaufen. Den dreifachen Mörder aus der Joachimstraße haben sie wie erwartet mit ihren gewohnten kriminalpolizeilichen Methoden innerhalb von drei Tagen zu einem Geständnis gebracht, und Gennat und seine Mannen dürfen sich wieder allgemeiner Anerkennung erfreuen. Das ist auch nötig, denn der Druck auf die Kriminalpolizei von Himmlers und Heydrichs Seite verstärkt sich seit Schaffung der Sicherheitspolizei, kurz Sipo, spürbar. Das Geschwafel über notwendige rassenbiologische Voraussetzungen und weltanschauliche Bekenntnisse jedes einzelnen Beamten nimmt überhand. Bezüglich seines und Klaras «arischen Nachweises» braucht Kappe keine Schwierigkeiten zu befürchten. Die Kirchenbücher in Wendisch Rietz bestätigen die urdeutsche Abstammung. Mit einer kleinen Ausnahme: Klaras Großvater war unehelich geboren und erst als Achtjähriger von dem späteren Ehemann der Urgroßmutter anerkannt worden. Kappe kann rechnen. Der Großvater war 1841 geboren, sein vorgeblicher Erzeuger 1827. Aber niemand hatte den vierzehnjährigen Vater beanstandet.
Klara hat vorgeschlagen, die Ostereiersuche in den nahen Friedrichshain zu verlegen, wozu die beiden Jungen nicht die geringste Lust verspüren. Hartmut vertieft sich gleich nach dem Frühstück in die dickleibige Urvätersaga von Hans Friedrich Blunck, Karl-Heinz will den Tag lieber mit immer neuen Angriffen seiner Soldaten auf die Pappmaché-Burg verbringen. Kappe selber gibt angesichts des Schneegestöbers vor, das Haus nicht verlassen zu dürfen, für den Fall, dass er zum Dienst gerufen wird.
Das ist natürlich Unsinn. Wie Alfons Busch