Horst Bosetzky

West-Berlin


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       Das Wahrzeichen West-Berlins: Die Gedächtniskirche

      Auch die Gegend um den Bahnhof Zoo ist keine innerstädtische Wüstenei geworden, sondern ist voll des Lebens und macht, was die Bauten betrifft, ein wenig auf Manhattan. Die Eröffnung des Waldorf Astoria Berlin lässt den alten West-Berliner singen: »Der Insulaner hofft unbeirrt, dass sein Bahnhof wieder ’n schöner ICE-Halt wird.« Das Bikini-Haus am Zoo wird restauriert und nicht abgerissen, und was den Zoologischen Garten selbst betrifft, so steht er bei den Berlinern und den anrückenden Touristen höher im Kurs als der Tierpark, sein Ost-Berliner Pendant, und schlägt ihn (in Millionen Besuchern) locker mit drei zu eins. Die Krönung ist aber die Meldung der B.Z. vom 20. Juni 2012: »Kudamm ist Berlins Nummer 1 bei Facebook. Shopping vor Sightseeing: Bei den Facebook-Nutzern rangiert unter den Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt nicht etwa das Brandenburger Tor an der Spitze der Beliebtheitsskala, sondern die Flaniermeile Kurfürstendamm.« Viele scheinen Sehnsucht nach ihm zu haben, auch wenn sie Hildegard Knefs Song noch nie gehört haben. WB steht also nicht nur für West-Berlin, sondern auch für WIR BLEIBEN, wir sind nicht totzukriegen.

      Am 28. Juni 2012 hatte ich die Ehre und das Vergnügen, von der Berliner Abendschau des rbb auf dem Breitscheidplatz, also am Fuße der Gedächtniskirche, zum Thema Befindlichkeiten des alten West-Berliners interviewt zu werden, und habe am Schluss mit Nachdruck die Schaffung eines West-Berlin-Museums gefordert. Beifall brandete auf, und hinterher wurde ich von mehreren älteren Mitbürgern geradezu umarmt. Nun, dieses Museum wird es so schnell nicht geben – begnügen wir uns deshalb mit diesem Buch aus dem Jahre 2006, dessen Text unverändert in die Neuausgabe übernommen worden ist.

Der West-Berliner als der große Gewinner

      Es heißt, ich sei im Februar 1938 auf die Welt gekommen. Zwar glaube ich das nicht, mit zunehmendem Alter immer weniger, aber nehmen wir einmal an, es sei wirklich so gewesen. Fest steht auf alle Fälle der Ort des Geschehens: die Lindenstraße im Bezirk Köpenick, später Ost-Berlin und Teil der Hauptstadt eines Landes mit dem Namen DDR. Hätte meine Mutter damals ausgerufen: »Horst ist ein Ostberliner!«, wäre sie auf totales Unverständnis gestoßen. Zunächst einmal lag und liegt Köpenick im Südosten der Stadt, und ganz abgesehen davon kannte die Umgangssprache damals weder den Ost- noch den West- oder den Südberliner, sondern einzig und allein den Nordberliner, lebend in den Bezirken Reinickendorf, Pankow und Weißensee. Nicht ohne Grund gibt es heute noch den Nord-Berliner als normale Tageszeitung, wenn er auch nur einmal in der Woche erscheint. Unterhielt man sich im Alltag über seinen Wohnort, dann spielte – neben Bezirk, Ortsteil, Kiez und Straße, versteht sich – die damalige postalische Zuordnung eine große Rolle. Die großen innerstädtischen Postbezirke waren aber nicht nur nach den vier Himmelsrichtungen – plus C für die Mitte – sortiert, sondern auch noch unterteilt in NW, NO, SW und so weiter, wobei Bezeichnungen wie SO 36 auch noch im 21. Jahrhundert eine gewisse Rolle spielen, zum Beispiel beim Quartiersmanagement.

      »Berlin W«, das gab es schon, das war das vergleichsweise mondäne Berlin in der Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und den Kurfürstendamm, festzumachen an Institutionen wie dem Kaufhaus des Westens, dem KaDeWe, und dem Theater des Westens. Im Pharus-Plan des Jahres 1928 finden wir das dicke gelbe »W« aber auf Höhe des Bendlerblocks, zwischen Landwehrkanal und Tiergarten, also viel weiter östlich. Wer dort wohnte, mochte zwar wohlhabend und arrogant sein, sah sich aber mit Sicherheit nicht als West-Berliner beziehungsweise als solchen ohne Bindestrich. Über diesen siehe weiter unten.

      Ziehen wir also eine erste Bilanz: Vor 1945 gab es keinen West-Berliner. Da er aber anschließend nachweisbar in die Weltgeschichte eingegangen ist, muss er nach Kriegsende entstanden sein. Und wir können es schon vorab ganz präzise fassen: Er ist ein Kind des Kalten Krieges, und den wiederum hätte es ohne das Hitler-Regime und den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Erinnern wir uns kurz – unter besonderer Berücksichtigung dessen, was sich in Groß-Berlin und speziell auf dem Gebiet der späteren West-Berliner Bezirke ereignet hat …

      Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler, den Führer der NSDAP, zum Reichskanzler. Nach der Machtergreifung werden Andersdenkende zunehmend terrorisiert, und nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 werden die Bürgerrechte durch eine Notverordnung erheblich eingeschränkt. SA und SS besetzen die Gewerkschaftshäuser, und am 21. März 1933 wird das KZ Oranienburg eingerichtet. Julius Lippert, Führer der NSDAP-Fraktion, wird von Hermann Göring, dem preußischen Innenminister, zum Staatskommissar für die Verwaltung Berlins ernannt, und er beginnt, der »marxistischen und jüdischen Verseuchung« der städtischen Ämter, Betriebe und Einrichtungen ein Ende zu bereiten. An die Schaufenster jüdischer Warenhäuser und Geschäfte werden Plakate geklebt, die zum Boykott aufrufen. Am 10. Mai 1933 werden in der von Joseph Goebbels, dem Propagandaminister, ins Leben gerufenen »Aktion wider den undeutschen Geist« 20 000 Bücher auf dem Opernplatz verbrannt, darunter die Werke von Kurt Tucholsky, Franz Werfel, Erich Kästner, Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Joseph Roth und Robert Musil. Die SPD wird verboten, ihre Mitglieder werden verfolgt, jede Opposition wird ausgeschaltet. Mit einem besonders billigen Radio, dem »Volksempfänger«, gelangt die NS-Propaganda in jedes Haus: »Ganz Deutschland hört den Führer mit dem Volksempfänger.« Der Exodus der Intellektuellen, insbesondere der jüdischen, beginnt. Die Olympischen Spiele in Berlin 1936 und die 700-Jahr-Feier der Stadt 1937 nutzt das Regime, um sich als grandios zu inszenieren. Dann beginnt am 9. und 10. November 1938 mit der »Reichskristallnacht«, mit dem Morden und dem Niederbrennen von Synagogen, Warenhäusern und Läden, ein neuer Abschnitt in der Judenverfolgung. Die ersten NS-Monumentalbauten werden eingeweiht, so die Reichsbank und die Neue Reichskanzlei.

      Am 1. September 1939 entfesselt Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Am 24. August 1940 gibt es den ersten Luftangriff auf Berlin, geflogen von der britischen Royal Air Force (RAF) als Vergeltungsschlag für einen Nachtangriff der Luftwaffe auf London. Beim nächsten Angriff der britischen Bomber regnet es Brand- und Sprengbomben auf Kreuzberg, und in der Gegend um die Skalitzer Straße und das Kottbusser Tor gibt es die ersten Toten, zwölf an der Zahl. Am 2. März 1943 bombardieren dann 257 RAF-Flugzeuge Berlin und legen ganze Stadtteile in Schutt und Asche. Ende März folgen zwei weitere Großangriffe. Durch die Angriffe im März sterben 711 Menschen. Ende 1943 sind 68 000 Häuser total zerstört, und 400 000 Berliner haben ihre Wohnung verloren. Die Evakuierung von Frauen, Kindern und Pensionären in weniger gefährdete Gebiete des Reiches beginnt. Als aber Goebbels am 18. Februar 1943 im Sportpalast die Anwesenden fragt: »Seid ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastung zu folgen?«, da bejahen diese es unter frenetischem Beifall und wollen den »totalen Krieg«. Am 20. Juli 1944 scheitern das Attentat auf Hitler und der Staatsstreich, und die Offiziere unter den Verschwörern werden auf dem Hof des Bendlerblocks am Tiergarten standrechtlich erschossen. Berlin wird zur Festung erklärt. Am 16. April 1945 beginnt die Schlacht um Berlin, am 21. April erreichen die ersten Stoßkeile der Roten Armee im Norden und Nordosten die Stadtgrenze, am 30. April 1945 begeht Hitler Selbstmord, am 2. Mai kapituliert der Kampfkommandant von Berlin, am 8. Mai das Deutsche Reich. Berlin ist auf einer Gesamtfläche von 9,5 Quadratkilometern zerstört, und 1,5 Millionen Menschen haben ihre Wohnung verloren. Ein Drittel der Straßen ist nicht befahrbar, keine Bahn verkehrt, die Strom- und Wasserversorgung ist zusammengebrochen, es gibt keine Lebensmittel mehr zu kaufen. Die Stadt bildet das größte zusammenhängende Trümmerfeld der Weltgeschichte.

      Am 5. Juni 1945 vereinbaren die Oberbefehlshaber der sowjetischen, amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsstreitkräfte in einer Villa in Wendenschloss im Hinblick auf die Reichshauptstadt Folgendes: »Das Gebiet von Groß-Berlin wird von den Truppen einer jeden der vier Mächte besetzt. Zwecks gemeinsamer Verwaltung (…) wird eine interalliierte Behörde (russisch: Kommendatura) errichtet, welche aus den vier von den Oberbefehlshabern ernannten Kommandanten besteht.« Die Einteilung der Sektoren war bereits am 12. September 1944 vorgenommen und im »Londoner Protokoll« festgehalten worden.