Klaus-Peter Enghardt

... und hinter uns die Heimat


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      Noch in die Besinnlichkeitsphase der Menschen hinein erklang ein festliches Orgelstück, das Herr Graudenz mit viel Inbrunst spielte.

      Sehr still wurde es, als der Pfarrer der Gefallenen der Gemeinde gedachte und ein anschließendes Fürbittgebet sprach. Hin und wieder war in den Reihen Schluchzen zu hören, weil die Mütter und die Ehefrauen nun ganz besonders an ihre Söhne und Ehemänner dachten.

      Das nächste Lied des Chores »Ich geh zu deinem Grabe« verstärkte diesen schwermütigen Augenblick besonders und das »Vater unser« der Kirchengemeinde erklang zunächst recht leise, erst allmählich erhöhte sich die Lautstärke.

      »Jauchzet Gott in allen Landen« sang die Kirchengemeinde dann gemeinsam mit dem Chor, danach erteilte der Pfarrer allen Kirchenbesuchern seinen Segen.

      Ein letztes Mal ertönte an diesem Morgen die Orgel, bei deren Klängen die Kirchengemeinde das Gotteshaus verließ und am Ausgang dem »Verein zur Pflege verwundeter Krieger« eine reichliche Kollekte bescherte.

      Obwohl Marie Schimkus im Chor mitgewirkt hatte, war sie von dem Gottesdienst so ergriffen, dass ihr bei der Nennung des Namens ihres Mannes die Tränen rannen. Katharina hatte das bemerkt, sie konnte ihre Freundin jedoch in jenem Moment nicht trösten. Erst beim Verlassen der Kirche hakte sie sich bei ihr ein und drückte Maries Arm.

      Wenige Minuten später war die Schwermut jedoch wieder von Marie Schimkus abgefallen und sie schlug Katharina vor, einen kleinen Spaziergang durch die Wiesen zu machen, bevor sie sich zu Hause den gebratenen Hahn schmecken ließen, den die Lehrerin noch am Gründonnerstagabend von einem Bauern geschenkt bekommen hatte, weil sie sich so sehr für den Kirchenchor engagierte.

      Wenige Tage nach Ostern kam die Aufforderung, dass alle Kinder in der Schule Uniformen zu tragen hatten, die Jungs braune Uniformen, die Mädchen weiße, gestärkte Blusen und dunkle Röcke. Damit alle Kinder diese Uniformen kaufen konnten, durften sich deren Mütter beim Bürgermeister des Dorfes melden. Dort bekamen sie neben einer bestimmten Summe Geldes ein Bild von Adolf Hitler ausgehändigt, das gut sichtbar im Haus aufzuhängen war.

      Mit dem Geld hatten die Mütter nun in Zinten die Uniformen zu kaufen, in denen die Jungs fast wie kleine SA-Männer aussahen, mit hellbraunem Hemd, schwarzer Hose und Lederkoppel. Zugleich mussten sie Mitglied beim Deutschen Jungvolk werden und durften sich »Pimpf« nennen.

      Die Mädchen mussten sich dem BDM anschließen.

      Oft wurden diese Uniformen nach der Schule gar nicht erst ausgezogen, sondern zweckentfremdet als Arbeitskleidung im Kuhstall benutzt.

      Am Mittwoch kam ein Telegramm für Katharina. Der Postbote brachte es direkt in die Schule. Der jungen Frau drohten die Füße wegzusacken, denn sie ahnte Furchtbares. Mit zitternden Händen riss sie den Umschlag auf und drehte sich zur Seite, damit ihre Schüler nicht ihre Gemütsverfassung sehen konnten. Im Klassenraum war es mucksmäuschenstill.

      Katharina las die wenigen Worte und ihr Gesichtsausdruck hellte sich schlagartig auf. Das waren keine schlechten Nachrichten, im Gegenteil, es war etwas ganz Schönes.

      Bereits am Freitag wollte Mutter Kleinschmidt sie besuchen kommen. Katharina freute sich riesig. Das war damals nicht nur so von der Witwe dahingesagt, sie besuchte tatsächlich ihre Schwester und wollte von Elbing aus mit der Bahn über Braunsberg nach Heiligenbeil fahren und von dort aus mit der Kleinbahn über Deutsch Thierau nach Zinten. So hatten es die Frauen vor einigen Wochen besprochen. Da der Zug um fünfzehn Uhr zweiundvierzig in Zinten ankam, also nach Schulschluss, wollte Katharina versuchen, Mutter Kleinschmidt vom Bahnhof abzuholen.

      Vielleicht hatte jemand aus dem Dorf zufällig etwas in der Stadt zu besorgen, sie würde sich da schon etwas einfallen lassen.

      Noch immer war es im Klassenraum still, weil sich auf der Stirn der Lehrerin vom Nachdenken Falten gebildet hatten und die Kinder falsche Schlüsse zogen. Erschrocken legte die Lehrerin das Telegramm zur Seite und rief: »Es ist alles in Ordnung, Kinder. Ich bekomme am Freitag lieben Besuch aus Berlin und hatte gerade überlegt, wie ich zum Bahnhof komme, um meinen Besuch abzuholen, aber lasst uns nun weitermachen.«

      Der Freitag kam schneller heran, als die junge Frau eine Lösung für ihr Problem gefunden hätte.

      Kurzentschlossen nahm sie ihr Fahrrad und schob es auf die Straße, um wenigstens das Gepäck für Mutter Kleinschmidt von Zinten transportieren zu können, als plötzlich ein Pferdewagen vor dem Hoftor hielt.

      »Tachche, ich habe geheert, dass Sie ejne Fahrjelejenhejt nach Zinten suchen. Wenns recht ist, kennse mit mir mitfahrn, ich hett was in de Stadt zu besorjen. Dauert auch nich lange und zurick kennse auch wieder mitfahrn.«

      Der Bauer Kruschat lud Katharina vom Kutschbock seines Pferdewagens aus mit einer Handbewegung ein, zu ihm auf den Bock zu steigen. Erfreut stimmte sie zu, rollte ihr Fahrrad wieder in den Schuppen und beeilte sich, auf den Kutschbock zu steigen. Unterwegs erfuhr sie vom Bauern, dass sein Enkel den Opa um diesen Gefallen gebeten hatte, als der erfuhr, dass der Opa in die Stadt fahren wollte.

      Die Pferde zogen den leichten Wagen flott in die nahe Stadt und die Lehrerin hatte sogar noch einige Minuten Zeit bis zur Ankunft des Zuges. Als der Zug am Bahnhof einfuhr, war Katharina aufgeregt. Sie freute sich riesig über den Besuch von Mutter Kleinschmidt, fast als würde ihre eigene Mutter sie besuchen kommen.

      Der Bahnsteig war mit Menschen vollgestopft, die nach Preußisch Eylau oder gar nach Bartenstein fahren wollten, und Katharina befürchtete schon, Mutter Kleinschmidt zu übersehen.

      Dementsprechend hoch war die Freude, als Katharina die ältere Frau aus dem Zug steigen sah, in der linken Hand einen kleinen Koffer.

      »Jottchen nee, is det een Jedränge«, rief ihr die Frau statt einer Begrüßung zu, doch als Katharina in Reichweite war, riss Frau Kleinschmidt die junge Frau an sich, küsste sie auf beide Wangen und rief: »Tachchen meene Kleene, lass dir umarmen. Wat hab ick mir uf dir jefreut. Jut siehste aus, nich mehr so spittelig wie bei deinen ersten Besuch.«

      Katharina lachte und zog Mutter Kleinschmidt aus der drängenden Masse auf den Bahnhofsvorplatz.

      »Wir haben Glück, Mutter Kleinschmidt, wir werden gleich von einem Pferdewagen abgeholt, der uns nach Loditten mitnimmt. Einer meiner Schüler hat seinen Großvater darum gebeten.«

      »Da musst du ja bei deinen Schülern ziemlich beliebt sein«, mutmaßte Frau Kleinschmidt.

      »Hm, das ist relativ. Die einen können mich immer gut leiden und die anderen nur, wenn ich ihnen keine schlechten Zensuren verpasse«, lachte die Lehrerin.

      Inzwischen fuhr Herr Kruschat mit seinem Gefährt auf dem Bahnhofsplatz vor, begrüßte die vornehm aussehende Frau höflich und lud das Gepäck der Berlinerin auf den Wagen. Dann half er der Dame sogar auf den Kutschbock hinauf. Auch die junge Frau setzte sich mit auf die Bank, die für drei Leute natürlich ein wenig eng war.

      »Hast du genug Platz?«, fragte Katharina ihren Gast besorgt.

      »Na ja, erst sitzt man wie eene Sprotte inne Dose im Zug und nu isses ooch nich ville besser. Aba wie sagt man doch imma, besser schlecht jefahren als jut jeloofen. Nee, nee, lass man, det is schon in Ordnung. So eene Fahrt of dem Kutschbock is ja ooch mal scheen. Man kann viel mehr sehen, als aus dem Auto und die Pferdchen sehen so hübsch aus.«

      Bauer Kruschat nahm dies als Lob und schmunzelte vor sich her.

      Die Begrüßung durch Marie Schimkus war zunächst etwas steif. Sie hatte ein wenig Berührungsangst vor der vornehm gekleideten Frau, doch die nahm Marie gleich den Wind aus den Segeln.

      »Tach, ick bin die Frau Kleinschmidt aus Berlin und Sie sind also die Frau Schimkus, von der unse Kleene so schwärmt. Det is schön, det wir uns ma kennen lernen. Katharina lobt Ihren Kuchen in den höchsten Tönen und ick bin doch so eene olle Kaffeetante. Keen Tach bei mir ohne Kaffe und Kuchen.«

      Das war das Stichwort für Marie. »Na, dann nehmen Sie mal Platz, ich habe nämlich für uns eine Eierlikörtorte gebacken.«

      »Na, det is een Wort, da saje ick nich nee«,