Reinhard Kessler

Steine des Schreckens


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Beruf kriegt man auch viel zu sehen. Ich wollte Sie nicht erschrecken, und das mit dem Stein, das muss ja nichts bedeuten. Steine gibt es hier genug und in allen möglichen und unmöglichen Formen. Haben Sie auch schon fleissig gesammelt?“

      „Nein, das wird uns immer zu schwer mit der Zeit. Da kriegt man ja lange Arme und kurze Beine. Am Schluss sieht man aus wie ein Orang-Utan. Und Sie, sammeln Sie Steine? Bernstein soll es hier ja auch geben. Das Gold der Ostsee, wie es heisst.“

      „Nein, wir sammeln eher Muscheln. Aber nicht ganz freiwillig. Da müssen wir mindestens einen halben Eimer voll für unsere Enkel mitbringen, sonst gibt es lange Gesichter.“

      Man fachsimpelte anschliessend noch über die Herkunft der Steine im Allgemeinen und der Feuersteine im Speziellen. Jelato erwähnte dabei, dass auf Rügen natürlich die allermeisten zu finden wären, weil die aus den Kreidefelsen ausgewaschen würden und gemischt mit Granit in unterschiedlichsten Farben bilden die dort den Kieselstrand.

      Vom Thema Feuersteine war es nicht weit zum englischen Ausdruck Flintstones und gleich war man auch bei der Familie Feuerstein. Die kannten sie alle. Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer waren ja auch beeindruckende Charaktere. Einzelne technische Erfindungen der Flintstones wurden diskutiert, vom Telefon über die Autos und den Schallplattenspieler bis zum Hausdinosaurier reichte das Gespräch. Eh sie sich versahen, war eine Stunde vergangen.

      Jelato fragte seine Frau: „Wir sollten jetzt! Was meinst du? Ein paar Bilder von dem toten Fisch machen wir noch und dann geht es in die Ferienwohnung und später zum Essen in die Stadt. Gut?“

      Sie war mehr als einverstanden. Schliesslich hatten auch sie sich einen guten Hunger angelaufen. Auch das gehört zu Ferien dazu. Man ist den ganzen Tag draussen an der frischen Luft und bewegt sich und als Folge entwickelt man einen guten Hunger – selbst das einfachste Essen schmeckt in den Ferien gut. Das Sprichwort stimmt: Hunger ist der beste Koch.

      Jelato und seine Frau erhoben sich also von der Bank und zogen ihre Jacken zurecht. Sie wühlte einen Fotoapparat aus ihrem kleinen Rucksack hervor und gab ihn Jelato.

      Dann hängte sie den Rucksack wie ein Stadtmensch über ihre linke Schulter. Er runzelte die Stirn und schaute kritisch, sagte aber kein Wort. Nur keine sinnlose Diskussion jetzt. Den Rucksack auf diese Art zu tragen, das konnte er nicht nachvollziehen. Das ergibt doch mit dem dann zur Seite verlagerten Schwerpunkt insgesamt eine labile Gleichgewichtslage. Den Kindern erklärt man, wie sie den Schulranzen zu tragen haben. Abweichungen davon können zu Haltungsschäden führen, sagt man ihnen.

      In den Bergen werden Menschen mit dieser Art des einschultrigen Rucksacktragens sicher nicht alt. Die Darwinsche Auslese und der sarkastische Darwin-Award fielen ihm dazu ein, ein Preis, der naturgemäss üblicherweise nur posthum zu erlangen ist, zum Beispiel durch Absturz wegen falschem Tragen von Rucksäcken.

      Bedingung für diesen Preis ist allgemein das möglichst dümmliche, vor allem aber definitive Ausscheiden aus dem menschlichen Genpool. Bewerben für diesen Preis kann man sich zu Lebzeiten ausschliesslich durch eine dumme Tat mit den entsprechenden Folgen. Je dümmer die Tat ist, umso höher steigt man im Ranking. Für Interessenten: schon Beerdigte werden für die Preisverleihung nicht wieder ausgebuddelt und die Tat muss schon ausserordentlich sein -ausserordentlich dumm. Ein ganz berühmtes Beispiel für sowas Saudummes ist, wie könnte es anders sein, ein Anwalt, der in einem Hochhaus im 24ten Stock seinen Gästen die Stabilität der eingebauten Fenster vorführen wollte und sich dagegen warf. And the winner is …

      Der Hund verfolgte aufmerksam jede Bewegung. Sicherlich vermutete er irgendwas Essbares im Rucksack und war schon voller Erwartung. Sein Schwanzwedeln war verräterisch. Der hatte da sicher schon lange was gerochen. Dafür sind diese Tiere ja bekannt. Tatsächlich hatte Jelatos Frau in einer kleinen Plastiktüte ein paar Hundeleckerli dabei und fragte: „Darf er?“

      „Ja, machen Sie nur.“

      Sie warf dem Hund ein Leckerli hin, aber aus Respekt vor dem Hund warf sie es nicht auf ihn zu, sondern rücksichtsvoll neben ihn. Wie schnell das träge Tier doch zuschnappte! Eben noch scheintot und jetzt plötzlich quicklebendig.

      „Wie ein Mensch! Die Faulen sind beim Essen plötzlich ganz schnell!“

      „Eher wie ein Krokodil.“

      Sie lachten.

      „Wissen Sie, unsere Nachbarn haben auch einen Hund. Der holt sich immer sein Hundeguzzli ab, wenn er mich sieht. Deswegen habe ich immer einen kleinen Vorrat dabei. Habe ich ganz vergessen vor der Abfahrt aus der Tasche zu nehmen. Jetzt war es doch für was gut. Einen schönen Tag noch.“

      „Danke ebenfalls, und da Sie noch länger auf der Insel sind, werden wir uns bestimmt nochmal über den Weg laufen.“ „Das wäre gut möglich. Auf Wiedersehen.“

      Jelato und seine Frau gingen los in Richtung der mysteriösen Fundstelle.

      Der Hund sah wehmütig seiner verschwindenden Futterquelle nach und machte sich in seinem Hundekopf sicher so klassische Hundegedanken: wieso gehen die einfach weg? Da wäre doch noch mehr möglich gewesen! Ich hab‘s gerochen! Sie kamen an die besagte Bank und erkannten sofort, dass das, was andere eine Sauerei nennen würden, wirklich arrangiert war. Eine arrangierte Sauerei sozusagen. Absichtlich und auch offensichtlich. Das Fischszenario war nicht einfach so zurück gelassen worden. Da steckte ein Gedanke dahinter, eine Absicht. Das sollte gesehen werden. Das sollte auffallen. Aber warum? Doch ein Kunstwerk?

      „Wir sollten das nicht überbewerten“, meinte seine Frau und schoss nach und nach trotzdem ungefähr 15 oder 16 Fotos.

      „Hey, mach doch nicht so viele Fotos.“

      „Ist doch egal, ich kann ja wieder ein paar löschen.“

      Das ist so ein Standardspruch im digitalen Fotozeitalter mit der zur Verfügung stehenden unglaublichen Speicherkapazität.

      Früher war ein Film teuer und hatte nur wenige Bilder. 24er- oder 36er-Filme waren sehr beliebt, in verschiedenen Empfindlichkeiten und als Kunstlicht- oder Tageslicht-Variante erhältlich, je nachdem, was man brauchte, und wer geschickt im Einlegen war, der konnte noch ein oder zwei Bilder mehr heraus holen. Dann wurde der fertige Film zum Entwickeln ins Fotolabor gegeben und nach 14 Tagen war es dann endlich soweit, die Bilder waren fertig. Das kostete immer viel Geld, auch wenn aus Mitleid etwa drei Abzüge nicht berechnet wurden, weil ganz offensichtlich falsch belichtet oder zu verwackelt.

      Ein Foto war also mühsam und teuer, und deshalb wurde genau überlegt, ob ein Motiv knipsenswert wäre, und wenn ja, mit welcher Verschlusszeit und mit welcher Blende. Ein Belichtungsmesser war damals noch teuer und nur selten eingebaut. Undenkbar heute. Richtig scharf stellen war auch eine Kunst für sich, trotz Fresnel-Einstellhilfe. Die Fachdiskussion, ob es Tiefenschärfe heisst oder Schärfentiefe, ist bis heute nicht entschieden.

      Aber heutzutage bedeutet Fotografieren was ganz Anderes. Man hält einfach drauf und los geht es. Es wird automatisch belichtet, es wird automatisch scharf gestellt, es wird automatisch mit Datum und Uhrzeit gespeichert, es fehlt wirklich nur noch die automatische Motivklingel, die ein Signal gibt, wenn irgendwo ein interessantes Motiv zum Knipsen ist. Der einzige begrenzende Faktor ist – der Akku.

      „Ich muss den Akku wieder ans Netz hängen“, sagte sie beim Einsetzen des Ersatzakkus und gemeinsam prüften sie die Bilder im kleinen Monitor am Apparat. Sie fanden die Bilder ok und gingen weiter.

      „Wenn das Kunst sein soll, dann weiss ich auch nicht.“

      Danach sagte er einen Satz, der ihn sofort als bekennenden Kunstbanausen outete: „Das ist höchstens Wulst. Kunst kommt von Können, Wulst kommt von Wollen.“

      „Egal was es jetzt tatsächlich darstellt. Das Leben ist hier so ruhig, dass ein toter Fisch den aufregendsten Teil des Tages bildet, DAS Ereignis des Tages, ich glaube es ja nicht.“

      „So stellt man sich doch Urlaub vor.“

      „Eigentlich schon.“

      „Im Urlaub vergeht die Zeit doch wie im Fluge. Wenn jetzt noch jeden Tag richtig was los wäre, dann würde die