Christa Wißkirchen

Komm mit ins Mühlendorf!


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Nur kurz vor dem Schlafengehen fällt ihm noch einmal das wütende Kerlchen ein. Tausend Käfer sollen ihn beißen! Theo lacht, dann legt er sich aufs Ohr.

      Mitten in der Nacht hat er auf einmal so ein komisches Gefühl, als ob irgend etwas näher käme, näher und näher – was denn? Da sieht er eine Menge rote Pünktchen in der Ferne. Sie bewegen sich, sie werden größer und größer und kommen auf ihn zu. Ach du Schreck, das sind Feuerwanzen, hunderte, tausende! Sie marschieren vor ihm auf und plötzlich machen sie Halt und stehen da wie eine rote Wand. Ein einzelnes feuerrotes Tier kommt jetzt auf ihn zu, es sieht so groß aus und wackelt mit den schwarzen Fühlern.

      „Du!“, sagt es mit kratziger Echostimme. „Du willst uns alle umbringen?“

      „N-nein, nein“, stottert Theo, „das war nicht so gemeint. Bitte lass mich in Ruhe!“

      „Du armseliger Mensch“, spricht die Feuerwanze weiter, „was bildest du dir überhaupt ein. Wir waren viel früher auf der Erde als du. Wir wollen hier wohnen und leben und uns ungestört vermehren. Hast du das kapiert?“

      „Ja, ja, natürlich“, sagt Theo ängstlich.

      „Kannst du dich überhaupt vermehren? Ich habe schon siebenundfünfzig Kinder, und du?“

      „Äh, wieso, ich“, stottert Theo, „noch keine, das heißt, wir bekommen bald unser erstes Kind, also meine Frau, meine ich ...“

      „Ha, ha, ha!“, lacht die Feuerwanze und die tausend anderen lachen auch mit piepsigen Stimmchen und wackeln mit zweitausend Fühlern.

      Da endlich erwacht Theo mit einem Ruck aus seinem Traum und sitzt kerzengerade im Bett. Nur der Mond scheint friedlich auf sein Kissen, und die Käfer sind fort. Ein Glück! Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und legt sich wieder hin.

      Und als ihn am nächsten Arbeitstag sein Kumpel fragt: „Sollen wir jetzt das Gestrüpp mit den Käfern auch abschneiden?“, da sagt er: „Na ja, ich hab mir’s überlegt. Sollen doch die Leute mit ihren interessanten Viechern selig werden. Solange die nicht zu mir ins Haus kommen, hab ich nichts dagegen.“

      Und Ole kann ein paar Tage später beruhigt nach Hause fahren. Die Feuerwanzen wohnen samt ihrer Kinderschar immer noch friedlich unter der Linde an der Windmühle.

       Ein besonderes Päckchen

      „Ach, wie dumm, ich war doch nur ganz kurz weg!“ Frau Schirmer steht am Briefkasten mit einem Zettel in der Hand. Da bremst Luca mit einem eleganten Schwung auf dem Bürgersteig.

      „Hallo, Tante Nicki! Guck mal, mein neues Fahrrad, ist das nicht super?“

      „Sehr schön. Und der Helm, ist der auch neu?“

      „Ja, und passt sogar in der Farbe, wie du siehst. Ich muss jetzt unbedingt ein paar Runden drehen, damit das Mühlendorf mein Fahrrad zu sehen kriegt.“

      „Du, Luca, kommst du vielleicht an der Post vorbei? Bei mir war ein Zettel im Briefkasten, dass ein Päckchen gekommen ist. Würdest du so nett sein und es für mich abholen? Ich hab jetzt gerade keine Zeit. Du brauchst nur den Zettel mitzunehmen.“

      „Klar, mach ich.“ Und schon sprintet Luca los.

      Vor der Post will er ebenso schwungvoll bremsen, aber da muss er plötzlich an einer Absperrung stoppen. In einem weiten Kreis um die Post ist rotweißes Flatterband gespannt, und eine Menge Leute stehen davor. Ein Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht und im Hintergrund ein Feuerwehrauto – was ist hier los? Von Feuer oder Rauch sieht man nichts.

      „Gibt es einen Überfall auf die Post?“, fragt Luca. „Nein, es soll was mit einem Paket sein“, sagt ein Mann. „Irgendwas Verdächtiges. Ich glaube, sie wollen einen Roboter in die Post schicken.“

      Jetzt kommt ein Polizist an die Absperrung. „Bitte gehen Sie alle weiter weg, zu Ihrer Sicherheit, bitteschön, alle schnell weggehen, auch du, mein Junge!“

      „Aber ich soll ein Päckchen abholen“, sagt Luca.

      „Geht jetzt nicht. Das heißt, Moment mal. Für wen sollst du das Päckchen abholen?“

      „Für meine Tante, die heißt Nicole Schirmer. Hier ist der Abholschein.“

      „Ich notiere mir das. Aber jetzt komm mal mit weiter nach hinten.“

      Zwei Spezialisten in gelben Anzügen steigen aus dem Feuerwehrauto und setzen ein Gerät in Gang, das sich langsam zum Haus bewegt und in der offenen Tür der Post verschwindet. Auf einem kleinen Bildschirm verfolgen sie, was dort drinnen geschieht.

      „Wie spannend!“, sagt Luca. „Schade, dass ich nicht dabei sein kann.“

      „Das wäre zu gefährlich“, sagt der Polizist. „Der Roboter untersucht ein verdächtiges Päckchen.“

      Nach einer Weile sieht Luca, dass die gelben Männer ins Haus gehen. Dann kommen sie mit einem ziemlich zerdrückten Päckchen in der Hand wieder.

      „Alles okay, Sie können die Absperrung aufheben. Ist hier irgendwo eine Frau Nicole Schirmer?“

      „Nicole Schirmer“, ruft Luca, „das ist meine Tante. Ich soll das Päckchen für sie abholen. Was ist denn damit los?“

      Und nun hört er die Geschichte: Die Postfrau hat wie jeden Tag eine Lieferung von Paketen bekommen und sie ins Abholregal geräumt. Als es ein paar Minuten lang still im Postraum war, hörte sie es aus einem Päckchen ticken, ganz deutlich. Was kann denn in einem Päckchen ticken? Hat man nicht schon gehört, dass jemand eine Bombe verschickt, die irgendwann explodiert? Die Frau rief sofort die Polizei an, und dann ging alles ganz schnell. „Du kannst das Päckchen jetzt mitnehmen“, sagt der Polizist zu Luca. „Es war harmlos. Schau mal, nur ein altmodischer Wecker und ein Brief. Aber sicher ist sicher.“

      Jetzt gibt es eine zweite Geschichte, und die steht in dem Brief, den Luca und Tante Nicki zusammen lesen. Er ist von ihrem Bruder Andreas aus Stralsund.

       Liebe Nicki,

       jetzt ist es tatsächlich schon fünf Jahre her, dass wir in unserem Elternhaus aufräumen und packen mussten, weil Mama und Papa in die Altenwohnung gezogen sind. Zum Schluss haben wir ja beide noch eine Kiste voll Sachen mit nach Hause genommen. Jetzt habe ich meine Kiste zum ersten Mal wieder aufgemacht, und da kam dieser alte Wecker zum Vorschein. Den musst du gut kennen, denn wir haben ja als Kinder immer damit gespielt. Weißt du noch, wie wir ihn aufgezogen und versteckt haben? Dann fing er plötzlich irgendwo an zu rasseln, und du wolltest dich totlachen, wenn die anderen einen Schreck kriegten. Jetzt sollst du ihn haben, als Erinnerung. Er tickt zwar längst nicht mehr, aber vielleicht kriegt er einen Ehrenplatz in deinem Haus.

       Machs gut, und viele Grüße von Deinem großen Bruder Andi.

      „Na, jetzt ist mir alles klar“, sagt Tante Nicki. „Auf seiner Reise mit der Post ist der alte Wecker tüchtig geschüttelt worden und wieder in Gang gekommen. Das muss ich dem Andi erzählen, was er mit seinem Päckchen angerichtet hat.“

      „Oder ich schreibe es ihm, von der Polizei und dem Roboter und allem. Ich war ja dabei.“

      „Tu das, Luca. Und ich stelle den Wecker ins Regal. Aber wenn ich ihn benutzen will, muss ich ihn jeden Tag aufziehen, das vergesse ich bestimmt.“

      „Aufziehen, warum?“

      „Er ist ja noch von den Großeltern. Damals gab’s noch keine Uhren mit Batterie.“

      „Ach ja, stimmt.“

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