Dorina Kasten

Pläne sind zum Ändern da


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      Nora musste nicht weit fahren. Der Reiterhof, auf dem sie ihr Pferd untergebracht hatte, lag nur fünfzehn Minuten entfernt. Sie kannte das Ehepaar, dem der Hof gehörte, von gemeinsamen Turnieren. Als sie sich vor zehn Jahren aus dem Turniersport verabschiedet hatte, war ihr die Wahl nicht schwergefallen.

      Sie hatte Jana und Ron gefragt, ob sie ihren Wallach Jupiter aufnehmen würden, der damals fünf Jahre alt war. Jupiter war gut eingeschlagen und hatte schon einige Jungpferdeprüfungen gewonnen. Nora stellte ihn Jana als Turnierpferd zur Verfügung und ritt selbst nur noch, wenn sie Lust dazu hatte. Das war meist einmal in der Woche. Manchmal nahm sie auch am Unterricht teil, den Ron Reitschülern gab, um sich korrigieren zu lassen.

      Heute aber wollte sie ausreiten und einfach nur das schöne Wetter genießen. Diese Idee hatten scheinbar viele, denn der Parkplatz stand voller Autos, als Nora um die Ecke bog. Hier wehte ein kräftiger Wind. Sie war froh, dass sie ihre gefütterte Reitweste angezogen hatte. Sie holte noch den Eimer mit Hafer und Möhren aus dem Kofferraum, tauschte ihre Turnschuhe gegen die Reitstiefel und ging in Richtung Sattelkammer.

      Ron kam ihr entgegen und umarmte sie zur Begrüßung fest. Er duftete herrlich nach Heu und Hafer. Nora liebte diesen Geruch seit ihrer Kindheit. „Hallo, Nora, schönes Wetter hast du dir für deinen Ausritt ausgesucht. Oder willst du mit in den Unterricht?“

      „Nein, heute nicht, ich geh lieber ausreiten, das hast du schon richtig erkannt. Ich muss mal den Kopf etwas freikriegen.“

      Er machte ein gequältes Gesicht. „Ja, ja, ihr Büromenschen, für mich wäre das ja nichts. Ich dreh schon durch, wenn ich Rechnungen schreiben muss und bin froh, dass Jana das meistens erledigt. Na dann viel Spaß beim Entspannen.“ Er tippte sich an sein Basecap, das er auf seinen allmählich grau werdenden, üppigen Schopf gesetzt hatte. „Dein Jupiter ist gut drauf. Er ist auf der Ostweide, hab ihn und seine Kumpels vorhin gerade rausgelassen.“

      Zwei junge Mädchen kamen mit ihren Pferden vorbei, um sie zur Weide zurückzubringen.

      Ron schloss sich ihnen an.

      Nora ging weiter und begegnete einer Gruppe von Frauen, die im Begriff waren, ins Gelände zu reiten. Sie kannte die meisten und blieb kurz stehen, um ein paar Worte zu wechseln.

      In dem Augenblick kam Jana mit dem Traktor angefahren. Als sie Nora sah, hielt sie an und stieg aus. Die beiden Frauen begrüßten sich herzlich. Nora überkam immer ein warmes Gefühl, wenn sie mit Jana und Ron zusammen war. Obwohl sie gar nicht so eng mit ihnen befreundet war und sie außerhalb des Reiterhofes kaum sah, waren sie eine feste Größe in ihrem Leben. Bodenständig und fleißig taten sie alles für die ihnen anvertrauten Pferde. Abgesehen davon, waren sie gute Reiter und Ausbilder. Mit Ralf verstanden sie sich auch gut und fragten ihn oft um Rat, wenn es um die Gesundheit ihrer Pferde ging.

      „Na, wie schaut’s aus, Nora? Willst du das schöne Wetter nutzen? Jetzt macht das Ausreiten wieder Spaß. Man merkt richtig, dass die Pferde sich austoben wollen nach dem langen Winter.“ Sie lachte und zog den Zopfgummi in ihrem roten Haar fest. „Aber keine Angst! Ich hatte Jupiter vorgestern im Training und hab ihn anschließend ordentlich über den Feldweg galoppieren lassen.“

      „Och, ich hab Zeit“, entgegnete Nora, „meinetwegen kann er laufen und laufen. Sonst alles in Ordnung mit ihm? Trainierst du schon für das Turnier im nächsten Monat?“

      „Ja, ich glaub, ich nehme ihn noch mal mit. Zumindest für die leichte Springprüfung werde ich ihn anmelden. Meine Stute ist nicht richtig fit. Die schone ich dieses Jahr.“ Sie wollte wieder auf den Traktor steigen, drehte sich aber noch mal um. „Ach ja, bevor ich’s vergesse, kannst du Ralf mal fragen, ob er mir wieder ein paar Flaschen von diesem sensationellen Insektenspray vorbeibringt? Damit haben wir die Pferde letzten Sommer vor den Geländeritten eingesprüht. Er weiß schon, welches. Gestern Abend habe ich nicht daran gedacht, war ja schon ziemlich spät, als wir noch mal nach den Fohlen gesehen haben. Und dann musste er los.“

      „Ach so, ja, es gab einen Notfall, weiß nicht genau, wo das war.“

      „Also vorher stand sein Auto bei der Bredenbrick. Die hat doch immerzu was mit den Kötern.“

      Jana saß schon auf dem Traktor, als Nora ihr zurief: „Gestern war’s ein Kaiserschnitt.“

      „Kaiserschnitt?“ Jana lachte. „Die duldet doch keine Frauen um sich herum. Die hat nur Rüden.“ Damit startete sie den Motor und fuhr los.

      Nora blieb verwirrt stehen. Wo war er nun wirklich gewesen?

      Eine halbe Stunde später hatte sie Jupiter von der Weide geholt, geputzt und gesattelt. In leichtem Trab ritt sie den Feldweg hinter dem Hof entlang. Es war windig, aber nicht kalt. Ringsherum auf den Feldern blühte der Raps auf.

      Nora atmete tief ein. Alle Zweifel und Sorgen waren verschwunden, sobald sie auf ihrem Pferd saß. So war es schon immer gewesen. Reiten erforderte ungeteilte Aufmerksamkeit. Diese Tatsache war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Besonders im Gelände durfte man nicht träumen, sondern musste mit wachen Augen rechtzeitig mögliche Gefahren erkennen. Jede Unachtsamkeit konnte mit einem Sturz bestraft werden. Pferde waren nun einmal Fluchttiere, auch wenn man glaubte, sein Tier gut zu kennen – ein Schwarm Wildbienen hatte eine größere Überzeugungskraft als ein angenommener Zügel. Abgesehen davon brauchte das Pferd die richtigen Hilfen, um die Gänge zu wechseln. Man musste es, wie Ron immer predigte, im Hintern haben, wenn der Trab kam. Das Geheimnis war, sich völlig auf das Tier einzulassen. Nur dann bekam man den Kopf von anderen Dingen frei.

      Nora ritt noch bis zum Wald, danach drehte sie um. Die letzten fünfhundert Meter ließ sie Jupiter galoppieren. Jana und Ron hatten recht gehabt. Er war gut drauf und schien den Ausritt auch zu genießen.

      Später, im Auto, kehrten die Gedanken, die Nora verscheuchen wollte, natürlich zurück. Eigentlich sollte ihre lange Beziehung zu Ralf über jeden Verdacht erhaben sein. Trotzdem nagten Zweifel an ihrem Vertrauen. Wieso wich er ihr ständig aus? Wo war er gestern Abend gewesen? Sie wollte ihm nicht hinterherspionieren. Das hatte sie nie getan. Sie war ihm immer treu gewesen und hatte geglaubt, nein gewusst, dass er das auch war. Andererseits hatte er ihr ja gar nicht erzählt, bei wem er zum Notfall gewesen war. Bisher hatte er also gar nicht gelogen. Und selbst wenn er später noch bei der Hundemutter gewesen war, hieß das ja noch lange nicht, dass er ein Verhältnis mit ihr hatte. Verhältnis? Jetzt hatte sie dieses Wort tatsächlich gedacht! Sie spann sich hier was zusammen, anstatt ihn einfach zu fragen. Wahrscheinlich war sie sowieso etwas angeschlagen nach der turbulenten Arbeitswoche. Und erst mal würde es so weitergehen. In den kommenden Tagen musste sie sich endlich an die Beschriftungs- und Erläuterungstexte für die Ausstellung machen. Nachdem nun die Auswahl der Objekte so gut wie feststand, war das ihre nächste Aufgabe. Zu Hause angekommen, bemerkte sie, dass Ralf nicht da war. In der Küche stand sein benutztes Geschirr. Er hatte sich über die Reste ihres „Hochzeitstagsmenüs“ hergemacht. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf den er mit seiner großformatigen, schnörkeligen Schrift „Hm, lecker!“ und „Komme später“ gekrakelt hatte. Sie fragte sich, wie Frau Keipke seine Hieroglyphen lesen konnte. Wahrscheinlich brauchte sie nur ein Stichwort zu entziffern, um eine Rechnung daraus zu machen. Jedenfalls wurde es heute also wieder nichts mit einem Gespräch und schon gar nichts mit einem Abend zu zweit. Nora ging früh ins Bett und las. Kaum hatte sie die Nachttischlampe ausgeknipst, kam Ralf nach Hause. Sie hörte die Dusche. Als er ins Schlafzimmer kam, machte sie das Licht wieder an.

      „Oh, du bist ja noch wach.“ Mit diesen Worten ließ er sich auf das Bett fallen. „Bin ich kaputt!“ Er lag auf dem Rücken, die Hände über der Brust gefaltet. „Einschlaf-Ausgangsstellung“ nannte er das.

      Sie sah ihn an. „Wo hast du eigentlich gestern den Kaiserschnitt gemacht?“

      „Kennst du nicht.“ Kurze Zeit später hörte sie ihn schnarchen.

      Sie musste es glauben. Aber ein feiner Stachel blieb.

      11

      Am Montag ging Nora mit Leo in das Depot des ehemaligen Stadtmuseums, das sich unweit