Dorina Kasten

Pläne sind zum Ändern da


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stiller, junger Mann, keine dreiundzwanzig Jahre, mit wilden schwarzen Locken, die nach allen Seiten abstanden. Nur, wenn er von einem Kunstwerk fasziniert war, kam er aus sich heraus und gestikulierte heftig. Dann wurden die Augen hinter seinen dicken Brillengläsern immer größer, als ob er sicherstellen wollte, dass die Begeisterungsfunken, die sie versprühten, sein Gegenüber auch tatsächlich erreichten. Er alberte nie herum und beteiligte sich auch nicht an den allgemeinen Witzeleien beim Frühstück. Aber dann und wann kam eine wirklich humorvolle Bemerkung von ihm, sodass ihn alle erstaunt ansahen und lachen mussten. Sie würde ihn vermissen, wenn seine Zeit hier um war.

      „Wann ist denn der späteste Abgabetermin für die Texte, Johannes? Haben Sie mit Frau Krentz darüber gesprochen?“, fragte Nora nun etwas ungeduldig und wippte mit dem Fuß auf und ab.

      Ihr Praktikant hatte sich gerade über die umfangreiche und moderne Technik ausgelassen, die der Grafikerin zur Verfügung stand. Er räusperte sich und spielte mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. „Bis zum ersten Juli sollten wir alles abgeschickt haben, Frau Schönemann. Sie bringt die Texte dann in Form und mailt sie zum Übersetzungsbüro. Dann müssen wir wieder Korrektur lesen, die Texte endgültig absegnen, und dann gehen sie in Druck. Aber bis Mitte Oktober schaffen wir das dicke, meinte sie.“

      „Hoffen wir’s!“, schaltete sich der Restaurator ein.

      Leo, Noras Lieblingskollege, hatte bis jetzt geschwiegen, sich aber eifrig Notizen gemacht. Er steckte sein Heft in die Tasche seines blauen Kittels, den er auch trug, wenn er nicht in seiner Werkstatt war. „Wenn ihr den Transportplan für die Leihgaben macht, denkt daran, dass ich die beiden Gemälde aus Privatbesitz noch restaurieren muss. Zwei Monate werde ich schon brauchen. Größere Schäden sind’s ja nicht, aber wer weiß, was noch zutage kommt, wenn ich erst mal angefangen habe.“ Den Leihvertrag für die beiden Gemälde, zwei Bürgermeisterporträts aus dem achtzehnten Jahrhundert, hatte Nora einem Autohausbesitzer abgeschwatzt. Sie passten wunderbar in die Darstellung der Stadtgeschichte. Anfangs wollte er sie nicht als Dauerleihgabe hergeben, aber die Aussicht darauf, dass sie in der Galerie kostenlos restauriert werden sollten und sein Name als Leihgeber genannt würde, hatte ihn schließlich überzeugt. „Den Transportplan macht Andrea, da kannst du ganz beruhigt sein, Leo.“

      Sie wandte sich der jungen Magazinmeisterin mit dem schwer zu bändigenden, blonden Kraushaar zu, die sofort in den Kalender schaute und mit ihrer hellen, leicht kieksenden Stimme antwortete: „Sobald ich die Rückmeldung von der Kunsttransportfirma habe, sag ich dir Bescheid. Die beiden Bilder werden eh zuerst geholt, weil das Autohaus abseits der anderen Routen liegt.“ Auf Andrea konnte sie sich verlassen. Sie hatte schon mehrmals bewiesen, dass sie logistisches Talent besaß. Sie arbeitete nur fünfzehn Stunden pro Woche für die Galerie, man hatte aber stets das Gefühl, dass sie immer da sei.

      Zwei der drei Depots waren außerhalb der Villa untergebracht. In allen herrschte eine mustergültige Ordnung, die selbst Nora manchmal unheimlich war und in ihrer Branche wohl ihresgleichen suchte.

      „Dann haben wir für heute alles besprochen“, hob Nora die Runde auf. „Ich stelle noch mal die Aufgaben für jeden zusammen und passe den Zeitplan an. Ich schicke euch alles per E-Mail. Wir treffen uns nächste Woche wieder.“

      Als auch die anderen sich erhoben, klopfte es an die Tür. Noch ehe Nora „Herein!“ rufen konnte, hatte Günther Börner den Raum betreten. „Setzt euch wieder hin, Leute!“ Damit ließ er sich selbst auf den erstbesten Stuhl sinken und zerrte an seinem Schlipsknoten.

      Nora kannte ihn lange genug, um zu ahnen, dass jetzt nichts Gutes kam.

      Er war rot und verschwitzt, wahrscheinlich vom Treppensteigen und hatte das unvermeidliche Eukalyptusbonbon zwischen den Zähnen. „Es ist also so …“, begann er umständlich, „dass wir eine Planänderung haben. Der, äh, Eröffnungstermin ist verschoben worden.“

      Na toll, dachte Nora, hoffentlich nicht bis nach meiner Abreise!

      „Macht doch nichts“, flüsterte Johannes ihr zu, „dann schaffen wir das erst recht, wenn wir noch ein bisschen mehr Zeit haben.“

      „Genau genommen“, fuhr ihr Chef fort, „um vier Wochen nach vorn.“

      „Waaas?“, riefen alle fast gleichzeitig und redeten durcheinander.

      Börner hob die Hände: „Ich kann da auch nichts machen“, meinte er bedauernd, „die Schnee…äh die Bürgermeisterin hat das so festgelegt, weil der Minister später keine Zeit mehr hat. Und wir wollen doch, dass er kommt. Schließlich ist das alles ganz hoch angebunden.“

      Nora war sprachlos. Sie überschlug kurz den Zeitplan, den sie gerade festgelegt hatten und ahnte, dass es ganz knapp werden würde. Zu viele Wochen hatten sie schon mit der Konzeption vertrödelt, die andauernd erneut den finanziellen Vorgaben angepasst werden musste. Die Bürgermeisterin hatte wirklich überhaupt keine Ahnung, wie viel Arbeit in so einer Ausstellungsvorbereitung steckte. Woher auch?

      Da alle anderen schwiegen und sie ansahen, wandte sie sich an Günther: „Du musst ihr klarmachen, dass das so nicht geht! Rede noch mal mit ihr, vielleicht kann der Minister ja was anderes absagen, und du schlägst wenigstens zwei Wochen raus! Das können die doch nicht einfach mit uns machen!“, nun wurde sie richtig wütend. Sie riss die Augen auf und hob unwillkürlich ihre Stimme. „Das ist alles ganz knapp kalkuliert, und außerdem will sie doch, dass wir Qualität abliefern“, appellierte sie an sein Verständnis. „Rufst du sie noch mal an?“

      Er war schon an der Tür. „Versprochen!“, kam es über seine Schulter. Es klang halbherzig. Vielleicht war es auch etwas naiv anzunehmen, ein Minister würde seine Pläne ihretwegen ändern. Im Grunde wusste sie, dass Günther die Einmischung der Bürgermeisterin hinnehmen würde. Eher würde er seine Leute oder sich selbst antreiben, als dass er eine Entscheidung der Obrigkeit infrage stellte. Dauernd hatte er Angst, anzuecken und sagte zu allem Ja und Amen. Sie seufzte.

      4

      Wie jeden Mittwoch machte sich Nora gleich nach der Arbeit auf den Weg zu ihren Eltern. Sie stieg ins Auto, drehte das Radio lauter und versuchte, die Probleme in der Galerie hinter sich zu lassen. Sie fuhr gern in ihr Heimatdorf. Es war immer wie eine Zeitreise. Jede Straße, jeder Baum und jedes Haus, mochten sie sich auch noch so verändert haben, erinnerten sie an ihre Kindheit. Die gestutzten Linden in der kleinen Einkaufsstraße, die wie abgebrochene Streichhölzer in einer Reihe standen, das rote Backsteinhaus mit der Dorfkneipe, die alte Schule mit der geschnitzten und bemalten Eingangstür und natürlich die ewig rauschende Pappelallee, die zum Sportplatz führte, die Bilder all dessen hatte sie für immer abgespeichert. Bis auf wenige Zugezogene kannte sie fast alle Menschen, die hier wohnten. Viele ihrer Schulfreunde lebten noch dort. Manche waren zuerst weggezogen und dann wieder zurückgekommen.

      Wie hatte Uwe beim letzten Klassentreffen gesagt? „Friedrichshagen hat etwas Magisches.“ Na ja, das war ein bisschen übertrieben für ihren Geschmack. Aber vielleicht hatte die Heimat eines Menschen allgemein etwas Magisches für ihn. In ihrem Kopf jedenfalls schwirrten stets einzelne Puzzleteile von Episoden aus ihrer Kindheit herum, bis sie sich eins schnappte und die Geschichte wieder ganz wurde.

      Gerade kam sie an dem See vorbei, in dem sie als Kinder Kaulquappen gefangen hatten. Sie füllten sie in ein Einweckglas und wollten beobachten, wie Frösche daraus wurden. Leider dachte niemand daran, einen Deckel auf das Glas zu tun und so hatte die Katze ihren biologischen Forschungen ein Ende gesetzt.

      Sie musste lächeln. Hier am See hatte sie auch ihren ersten Kuss bekommen, mit neun. Buck und Ben, die Zwillingsbrüder aus der Nachbarschaft, hatten sie öfter abgeholt. Räuber und Schandarm war ihr Lieblingsspiel gewesen. Meistens musste Nora das Opfer sein und irgendwo reglos herumliegen. Einmal wollte Ben sie zum Abschied auf den Mund küssen. Instinktiv hatte sie den Kopf weggedreht, und er traf nur ihr rechtes Ohr. Das Gefühl seiner feuchten Lippen und das schmatzende Geräusch hatte sie nie vergessen.

      Lautes Hupen katapultierte sie unsanft in die Gegenwart. Ihr gegenüber an der Kreuzung stand Uwe. Er ließ die Scheibe seines Lieferwagens herunter und warf ihr im Vorbeifahren eine Kusshand