Und wo sind wir eigentlich? Worauf gehen wir und was ist mit der Stadt geschehen?“
„Nicht so viele Fragen auf einmal, junger Mann“, antwortete der Löwe, blieb stehen und gähnte ausgiebig. „Rosa ist nicht weg.“
„Naja, aber offensichtlich ist sie auch nicht hier …“
„Bist du da sicher?“
„Wenn ich jemanden nicht sehen kann und keine Versteckmöglichkeiten vorhanden sind, dann ist er wohl auch nicht da, oder?“
„Du bist ja ein ganz cleveres Bürschchen! Wenn du so weitermachst, bringst du es noch zum Schichtleiter beim Paketlieferdienst … Ich bin Rosa, du Schlaumeier!“
„Und wo ist die Stadt?“
Der Löwe brüllte laut und ich zuckte zusammen.
„Meinst du, ich habe Lust, nur eine Stadt zu sein? Der Nachthimmel gefällt mir viel besser.“
„So, so … In dem Fall bist du auch der durchsichtige Boden, auf dem wir gehen, wie?“, fragte ich und meine Stimme überschlug sich.
„Werd’ nicht unverschämt! So einen Einstein wie dich muss ich doch nicht daran erinnern, dass ich ein Löwe bin und dich im Handumdrehen verschlingen kann.
Und von welchem durchsichtigen Boden sprichst du? Wir sind in der Wüste …“
Ich blickte erneut nach unten und sah, wie meine Schuhe zur Hälfte in feinem Sand versunken waren. Allerdings schien auch dies – ebenso wie der sprechende Löwe – ganz in der Ordnung zu sein. Ich bückte mich und strich mit der Hand durch die warmen, klitzekleinen Körnchen, die sich nun in unzähligen Dünen bis zum Horizont erstreckten.
„Wie machst du das alles?“, fragte ich den Löwen.
„Ich mache hier überhaupt nichts …“, antwortete er vielsagend.
„Okay, gut“, erwiderte ich und meinte, endlich zu verstehen. „Kannst du auch wieder zu Rosa werden?“
„Aber klar“, antwortete Rosas Stimme und prompt war es erneut die Bedienung des Café Bellezza, die neben mir lief, meine Hand nahm und mir mit der losgelösten Strähne im Gesicht zulächelte. „Vielleicht werde ich gleich zu einer Vampirfledermaus, einer griechischen Landschildkröte, einer Schneeeule oder einem Wolf. Die magst du doch alle, oder?“
Ich brauchte ihr nicht zu antworten. Sie schien ohnehin alles über mich zu wissen. Während wir langsam durch den Sand schlenderten, zeichnete sich vor uns bald die Kontur einer Pyramide ab, deren Spitze hoch in den Himmel ragte.
„Gehen wir dorthin?“, fragte ich.
„Ja! Da liegt unser erstes Ziel. Wenn wir zeitig ankommen wollen, empfehle ich dir allerdings, mich nicht zu einer Schildkröte zu machen. Aber wir sollten uns auch so mal ein wenig ausruhen. Meine Ausdauer ist nicht viel besser als die des Löwen.“
Mit dem Hintern voraus ließ sie sich in den weichen Sand fallen und stöhnte genüsslich.
„Du bist doch den ganzen Tag auf den Beinen, wenn du eure Kunden bedienst“, erwiderte ich, als ich mich neben sie legte.
Ich hatte völlig vergessen, dass es nicht Rosa war, mit der ich sprach.
„Das mag sein“, antwortete sie. „Aber es gefällt dir doch ohnehin viel besser, neben mir im Sand zu liegen, nicht wahr? Von hier aus hat man auch die beste Aussicht auf die Pyramide während des Sonnenaufgangs.“
„Aber bis dahin sind es noch Stunden!“
„Was redest du denn da? Wir sind die ganze Nacht gelaufen! Außerdem gibt’s hier keine Zeit. Zumindest nicht so, wie sie dir bekannt ist. Jeden Augenblick müsste es hell werden.“
Ich blickte nach der Pyramide und tatsächlich tauchte hinter ihr das erste Licht des Tages auf. Erst jetzt erkannte ich, dass der Gigant gar nicht aus Stein war, sondern durchsichtig, und nun, in der Morgensonne, zu einem gigantischen Prisma wurde. Rosa, vom Strahl beschienen, sah mit einem Mal aus, als sei sie mit Honig bestrichen worden. Tranceartig bewegte sie ihren Oberkörper hin und her und beobachtete kichernd meine fassungslose Miene, als ihr hübsches Gesicht allmählich von der goldgelben Färbung in eine orange überging.
Die Pyramide jedoch war nicht mehr das einzige Gebilde, das in unserer Wüste erschien. Neben ihr entstanden plötzlich Würfel, Quader, Kegel und Zylinder, die das Licht auf ihre völlig eigene Weise brachen. Die seidig weißen Strahlen des Quaders ließen die Sanddünen glitzern, während das, was aus dem Kegel kam, ein solch tiefes Schwarz war, dass die Umrisse der Wüste darin verschwanden und sich in gespenstische Finsternis verwandelten.
„Wen das Schwarze trifft, der hat verloren“, rief Rosa und sprang wie ein kleines Mädchen über mich hinweg.
Zu spät sah ich das über den Sand kriechende Dunkel und konnte mich nur noch durch mehrmaliges Rollen retten, bis ich schließlich so viel Abstand zu den Strahlen des Kegels gewonnen hatte, dass ich es mir erlauben konnte, mich aufzurichten. Rosa stand ein paar Meter abseits und lachte. Sowie ich auf den Beinen war, rannte sie auf mich zu, um mich erneut umzuwerfen. Doch dieses Mal war ich vorbereitet. Ich packte sie und der Schwung riss uns gemeinsam von den Füßen. Spielerisch versuchte sie, sich frei zu strampeln, aber ich war stärker. „Hoffentlich wird sie nicht gleich wieder zu einem Löwen“, dachte ich, als wir uns im Sand hin und her wälzten.
Unsere Nasenspitzen berührten sich und sie sagte:
„Gleich hat uns das Schwarze und wir haben verloren.“
Die Strahlen des Kegels hatte ich schon längst vergessen, aber wahrscheinlich konnten sie mir ohnehin nichts anhaben, wenn Rosa da war. Ich beobachtete, wie sich die Schwärze ihrem Kopf näherte. Was würde dann passieren? Bestimmt sähen wir überhaupt nichts mehr und wären eingehüllt in Dunkelheit.
Doch das Gegenteil geschah: Alles um uns war plötzlich in gleißendes Licht getaucht, Sand und Himmel nur noch weiß und Rosas Haut so glänzend, als sei sie mit mehreren Spuren Klarlack übermalt worden. Als ich in ihre Augen sah, schreckte ich auf. Tiefschwarz, undefiniert und ausdruckslos, schienen sie auf mich gerichtet, während sich ihre Miene zu einer grausamen Grimasse verzerrte. Sie sah wohl dasselbe bei mir und ich verstand nun, warum sie den Strahlen des Kegels entkommen wollte …
Doch der Spuk dauerte nur ein paar Sekunden und wir kehrten erleichtert in die bunte Wüste zurück.
„Mach das nicht wieder“, flüsterte sie völlig außer Atem. Sie lag noch immer in meinen Armen und klammerte sich an mich.
„Niemals“, antwortete ich, schloss die Augen und beugte mich nach vorne, um sie zu küssen.
Aber anstatt ihren Lippen fühlte ich eine nasse Schnauze und zuckte zurück.
Rosa war zu einem Wolf geworden, der nun jaulend und fiepend um mich herumtollte.
„Der Herr war wieder einmal zu gierig“, sagte der Wolf mit derselben Bariton-Stimme, derer sich auch schon der Löwe bedient hatte. „Wenn ich lachen könnte, würde ich den ganzen Tag nicht mehr damit aufhören. Nee, nee … Erst jemanden in den Strahl des Kegels jagen und ihn dann auch noch küssen wollen. Du bist mir einer … Zur Pyramide zu gehen, können wir nun natürlich vergessen.“
„Wieso?“, fragte ich wehmütig.
Rosa war verschwunden. Ein paar Mal versuchte ich, den Wolf wieder zu ihr zu machen, doch es gelang mir nicht.
„Wenn du im Strahl des Kegels warst, kommst du niemals zur Pyramide, egal, wie lange du gehst. Sie bleibt fern am Horizont, wandert vor dir davon, flieht und bringt sich in Sicherheit. Du würdest alles kaputt machen, wenn du sie jetzt betrittst. Das kann sie natürlich nicht zulassen. Und hör endlich auf, mich verwandeln zu wollen. Auch damit hat es sich für heute erledigt! Wenn du willst, kannst du mich ja nochmal küssen“, rief der Wolf und fing wieder an zu jaulen.
„Und warum hast du dieselbe Stimme wie der Löwe?“
„Wäre es dir lieber, ich