Arnold Mettnitzer

Steh auf und geh


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den tieferen Sinn so mancher ihnen vermittelter Weisheiten nicht verstanden zu haben.

      Seit die „Ranking-Manie“ unter der Devise „Wer mehr publiziert, ist klüger“ für eine wahre Bücherschwemme am Buchmarkt zu sorgen scheint, ist die Herausforderung an einen Autor besonders groß, sich gut zu überlegen, ob überhaupt und wenn ja, mit welchem Thema er sich zu Wort melden soll. Wenn er dabei den weisen Kohelet zurate zieht, der sich bereits 200 Jahre vor Christus über all das Gedanken gemacht hat, wird er aus seinen Texten zunächst keine schnelle Ermutigung für sein Vorhaben erkennen können. Bereits die ersten Zeilen dort stimmen nachdenklich, vielleicht sogar pessimistisch und scheinen den Schluss nahezulegen, mit dem Schreiben erst gar nicht zu beginnen.

       „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

       Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt:

       ‚Sieh dir das an, das ist etwas Neues‘ –

       aber auch das gab es schon in den Zeiten,

       die vor uns gewesen sind.“ 1

      Bei näherer Betrachtung allerdings entpuppt sich Kohelet nicht als Pessimist, wohl eher ist er ein lebenserfahrener Realist, der sein Denken und Fühlen ähnlich wie der griechische Philosoph Heraklit auf den Punkt bringt:

       „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären/​und eine Zeit zum Sterben,/​eine Zeit zum Pflanzen/​und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,/​eine Zeit zum Töten/​und eine Zeit zum Heilen,/​eine Zeit zum Niederreißen/​und eine Zeit zum Bauen,/​eine Zeit zum Weinen/​und eine Zeit zum Lachen,/​eine Zeit für die Klage/​und eine Zeit für den Tanz;/​eine Zeit zum Steinewerfen/​und eine Zeit zum Steine sammeln,/​eine Zeit zum Umarmen/​und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,/​eine Zeit zum Suchen/​und eine Zeit zum Verlieren,/​eine Zeit zum Behalten/​und eine Zeit zum Wegwerfen,/​eine Zeit zum Zerreißen/​und eine Zeit zum Zusammennähen,/​eine Zeit zum Schweigen/​und eine Zeit zum Reden,/​eine Zeit zum Lieben/​und eine Zeit zum Hassen,/​eine Zeit für den Krieg/​und eine Zeit für den Frieden.“ 2

      Ähnliche Überlegungen finden wir auch in den Gedanken des griechischen Philosophen Heraklit.3 Sein wohl bekanntester Satz lautet: „Alles fließt, nichts besteht.“ Auch seine Gedanken, dass es Entwicklung nur geben kann im täglichen Hin und Her, im ständigen Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte, sind interessante Parallelen zum biblischen Text bei Kohelet. Heraklit geht sogar so weit, sich Gott selbst vorzustellen als „Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Hunger“.4 Darum, so meint er, wäre es für den Menschen auch nicht gut, wenn er ans Ziel seiner Wünsche käme. Denn es sei die Krankheit, die die Gesundheit angenehm macht, nur am Übel gemessen trete das Gute in Erscheinung, am Hunger die Sättigung, an der Mühsal die Ruhe. Darum hätten diejenigen Unrecht, die ein Ende allen Kampfes in einem ewigen Frieden herbeisehnen. Denn mit dem Aufhören der schöpferischen Spannungen würde totaler Stillstand und Tod eintreten.

      Wenn mich also der Weise aus der Bibel daran erinnert, dass alles seine Zeit hat, dann gibt es offensichtlich wohl auch eine Zeit zum Bücherlesen und zum Bücherschreiben. Und wenn mich noch dazu der Philosoph vor dem Aufhören schöpferischer Spannungen warnt, dann bin ich trotz aller Einwände von besorgten Freunden hoch motiviert, ein weiteres Büchlein zu schreiben. Ich schreibe es nämlich nicht, weil ich etwas wüsste, das andere nicht wissen. Ich schreibe es, um das, was mich täglich in der Begleitung von Menschen bewegt und beschäftigt, durch die Mühe, es in Worte zu fassen, tiefer und (hoffentlich) gründlicher „verstehen“ zu können. Die dabei zu Hilfe gerufenen, biblischen Texte sind erstaunlich jung, voller Kraft und therapeutischer Qualität, sie sind aber auch ein überzeugender Hinweis darauf, dass alles, was wir heute als zentrale Probleme des Menschen diskutieren, bereits wichtig war „in den Zeiten, die vor uns gewesen sind“.

      „VOM REISEN.“ So antwortete vor Jahren Peter Handke auf die Frage, woher er den Stoff für seine vielen Bücher nehme. Dieses „Reisen“ als „Erfahrung“, als „Unterwegssein“ ist in unterschiedlichen Nuancen das Thema dieses Buches, weil es auch die Grundmelodie alles Lebendigen und das zentrale Thema vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel ist. Wer das älteste Buch der Welt unter diesem Vorzeichen zur Hand nimmt und es so zu lesen versucht, versteht seinen eigenen Lebensweg und die darin gemachten Erfahrungen, eingebunden in den Erfahrungsschatz vieler. Gipfelsiege, Glanzleistungen, Irrwege, Umwege und Sackgassen werden dort beschrieben und von Erfahrungen berichtet, deren tiefe Wahrheit und therapeutische Kraft erstaunlich modern wirken und selbst vor den Ergebnissen neurobiologischer Forschung bestehen können.

      Immer geht es dabei um Ermutigung, um „Zumutung von innen her“, um das Feuer innerer Bereitschaft und wenn nötig um einen radikalen Perspektivenwechsel. So können im Menschen schlummernde Selbstheilungskräfte aktiviert und neue Ziele ins Auge gefasst werden. Selbst dem hochbetagten Abraham gelingt es so noch, aufzubrechen, aus der gewohnten Umgebung wegzuziehen und einen ganz neuen, seinen unverwechselbar eigenen Weg zu gehen. Wer so die Bibel liest, wird staunen, wie erfrischend jung sie ist, was sie den Abenteurern des Lebens auch heute noch zu bieten hat. Sie ist „heilige“ Schrift im Sinne von „heilender“ Schrift, sie „gehört“ nicht nur Juden und Christen, sie ist als gebündelter Erfahrungsschatz Kulturgut der Menschheit und offen für alle, die bereit sind, in diesen Erfahrungsschatz einzutauchen.

      Die ermutigende Kraft biblischer Texte ist seit Jahren eine immer wieder auftauchende Begleitmelodie meiner therapeutischen Arbeit. Und das Erstaunliche dabei liegt darin, dass nicht ich als Theologe die Sprache darauf bringe, sondern meine Patienten, die nicht selten dabei auf das kleine Kreuz in der Praxis Bezug nehmen, das manche irritiert, viele erstaunt und von kaum jemandem nicht beachtet wird: Der Konzeptkünstler Werner Hofmeister hatte zunächst für die vierte Klasse einer Volksschule, also für Schüler kurz vor dem „Absprung“ in einen neuen Lebensabschnitt, eine Skulptur geschaffen, die den Gekreuzigten am oberen Rand des Längsbalkens als Abspringenden zeigt. Auf dem Querbalken steht das Wort „springboard“ – „Sprungbrett“ beziehungsweise, wie in der monumentalen Ausführung dieses Werkes am Fuß des Grazer Kalvarienberges, „tabula saltandi“ – „Tanzboden“. Dieses kleine, von vielen als ungewöhnlich empfundene Kreuz ist mir ein stimmiges Symbol für den beherzten Mut, den ein Mensch braucht, damit sein Leben „gelingen“ kann.

      Mit „gelingen“ ist hier weit mehr gemeint als „Erfolgreich-Sein“, es meint jene geheimnisvolle und von außen nicht steuerbare Erfahrung, dass Rückschläge, Enttäuschungen, selbst aussichtslos scheinende Situationen im Leben nicht einfach hingenommen und in Demut ertragen werden müssen, sondern „von innen her“ betrachtet zum Sprungbrett, vielleicht sogar nach und nach zum Tanzboden für unerwartet neue Möglichkeiten werden können. In Blickrichtung auf dieses Kreuz sieht der Betrachter in meiner Praxis auch einen kleinen, mir geschenkten Schuh, der unserem Patenkind Samuel zu klein geworden war …

      Kaum besser kann ich symbolisch zusammenfassen, worum es in meiner täglichen Arbeit geht, nämlich um die Beseitigung seelischer Leidenszustände und dabei immer zuallererst wohl darum, einem Menschen, der Hilfe sucht, wieder auf die Sprünge zu helfen, ihm beizustehen, damit er wieder festen Boden unter seine Füße und den Mut bekommt, aufzustehen und unter einer anderen Perspektive weiterzugehen. Oder anders gesagt: Es geht darum, einem Menschen, der, aus welchen Gründen auch immer, auf den Wegen seines Lebens den alten Schuhen entwachsen ist, bei der Suche nach „neuem Schuhwerk“ behilflich zu sein. Letztlich geht es im besten Sinn des Wortes um „Auferstehung“, um die Befreiung aus der Erfahrung des „Aufs-Kreuz-gelegt-und-angenagelt-Seins“, es geht um einen Ausweg aus vermeintlicher Ausweglosigkeit, um Hoffnung in zunächst bedrückender Hoffnungslosigkeit. Es geht um das, was Augustin von Hippo in einer seiner großen Reden seinen Zuhörern zuruft: „Sei, der du bist und wachse voran, ein anderer zu werden, als du bist! Denn wo du Halt machst, bleibst du stehen und wenn du sagst ‚Ich habe genug geleistet‘, bist du verloren!“

      Auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven die