Michael W. Caden

Das Mädchen mit den Schlittschuhen


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Im Laufe der Zeit entwickelte er dabei sogar eine ganz eigene Technik, indem er mit einem Auge zum Boden blickte, mit dem anderen zum Himmel hoch linste – immer auf der Suche nach irgendwelchen überirdischen Neuigkeiten.

      Albert fand ihn auch immer etwas sonderlich. Karlchen aber, der mochte ihn.

      »Dem Karlchen, mit dem ist was gefällig«, pflegte Willumeit immer zu sagen. Das Karlchen, das sei kein Glumskopp, meinte er, das sei so schlau, das könne sogar Katzendreck im Dunkeln riechen. Dem kleinen Karl imponierte das mächtig. Einen ellenlangen Vortrag über das ostpreußische Rindvieh an sich und insbesondere über die klotainische Kuh hatte er Willumeit während eines Spaziergangs gehalten. Und der hatte andächtig zugehört. Karlchen klärte ihn darüber auf, warum die Viecher in Klotainen mehr Milch geben als ihre Artgenossen in Wernegitten und wieso die Kuh von Frau Glupsch die größten Fladen fallen lässt. Karlchen wusste alles übers Viehzeug, zumindest tat er so. Selbst der Kuhschwanzastronom aus Heilsberg, womit er den örtlichen Tierarzt meinte, und da war er sich sicher, hätte von ihm noch etwas lernen können. Und was Willumeit an Karlchen besonders gefiel, war die Tatsche, dass er auch über Klunkermus sprach, welche Sorten von Klunkermus es gibt, darüber, wie man die Mehlklöße zubereitet, damit sie nicht auseinanderfallen und wie lange man sie in der Milchsuppe garen muss. Willumeit war stets fasziniert von so viel Gourmetwissen.

      Karlchen war stolz darauf, Katzendreck im Dunkeln riechen zu können. Er verstand es als Kompliment und fühlte sich geehrt, geradeso als habe ihm der alte Willumeit mit diesem Satz einen Orden verpasst. Mit Stolz geschwellter Brust ging er fortan durchs Dorf, erzählte jedem, der seinen Weg kreuzte, von Kühen und Katzen, und wenn der Tag zu Ende ging und Karlchen in den Schlaf fiel, dann fing er am nächsten Morgen wieder damit an. Er hatte eben einen ausgeprägten Missionsgeist. An klaren Tagen erwischte er sich sogar manchmal dabei, wie er zum Himmel hochblickte. Doch außer Cumulus- oder Cirruswolken konnte er dort nichts ausmachen.

      Doch der alte Willumeit – er sollte Recht behalten. Man schrieb das Jahr 1944. Der große Krieg war bereits im fünften Jahr. Tausende und Abertausende waren auf den Schlachtfeldern gestorben. Vielleicht konnte Willumeit die Dinge tatsächlich voraussehen, vielleicht war er aber auch nur etwas verwirrter als andere. Aber woher zum Teufel sollte dieser seltsame Mensch wissen, wo sich Mutters Geheimfach befand und dass die Schlittschuhe darin lagen? An der Sache, das roch Albert sofort, an der war irgendetwas faul.

      Es gab Tage, da hätte er Karlchen zum Mond schießen können und vielleicht auch noch ein Stückchen weiter. Und heute, da war so ein Tag. Ständig nervte er, und nie blieb er bei der Wahrheit. Und stur konnte er sein. Ein Esel hätte sich vor Neid in den Schwanz gebissen. Was dieser kleine schwarzhaarige Ermländer sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das bekam da so schnell keiner mehr heraus.

      »Du kannst die Schuhe gerne haben. Aber nur unter einer Bedingung«, machte Karlchen seinem Bruder unmissverständlich klar.

      »Und unter welcher?«, fragte Albert ungläubig.

      »Wenn ich heute Abend deinen Nachtisch bekomme!«

      »Den eingemachten Kürbis?«

      »Ja, den Kürbis!«

      »Muss das sein?«

      Eingemacht mochte ihn Albert für sein Leben gern.

      »Ja!«

      »Na denn … Ja, kannste haben. Also her mit den Schlittschuhen!«

      Ungeduldig griff Albert nach den blinkenden Kufen. Es war Ende 1944, der erste längere Frost hatte Besitz vom Land ergriffen. Seit Tagen war es bitterkalt geworden. Eine dicke Eisdecke hatte den See überzogen.

      »Ich bin in einer Stunde wieder zurück. Sag mir Bescheid, wenn Mutter früher von der Arbeit kommen sollte«, rief Albert seinem Bruder zu, während er die Schlittschuhe unter die Arme packte und zur Haustür rannte.

      »Mach ich. Und nicht vergessen: Den Kürbis bekomme ich!«, rief Karlchen ihm hinterher.

      »Natürlich! Kriegste.«

      Albert lief zum Teich, der sich direkt hinter dem Haus befand. Er hockte sich auf eine kleine Bank, die dort stand. Mit zwei, drei Griffen streifte er den blinkenden Stahl über die Schuhe. Es waren seine Sonntagsschuhe, die er immer zum Kirchgang anziehen oder zu anderen festlichen Anlässen tragen musste. Wenn das Mutter wüsste …! Dann würde es etwas setzen.

      Mit wenigen schnellen Schritten glitt er über den vereisten Teich weiter auf der eisigen Rinne des kleinen Baches Richtung See. In der Senke nahm Albert auf der Straße in Richtung Siegfriedswalde einen dunklen Punkt wahr, der sich langsam bergabwärts bewegte. Albert stoppte abrupt. Die Kufen krallten sich ins Eis. Eiskristalle spritzten über den kleinen Bachlauf. Was zum Teufel ist das?

      Albert wartete, bis sich aus dem kleinen schwarzen Punkt erste Konturen abzeichneten. Er erkannte einen Wagen. Es war ein alter, klappriger Leiterwagen, so wie in Klotainen einer bei Urbschats hinter der Schmiede stand. Vorne auf saß ein vermummter pummeliger Mann, eine Kapuze über den Kopf geschlagen, darunter einen Hut. Sein Atem dampfte. Hinten an dem seltsamen Gespann hatte er eine Kuh angebunden. Der Wagen selbst war mit einer Plane zugedeckt. An der Seite klapperte ein Eimer am Holz, so alt wie ein Gewehr aus der Rüstkammer von Plibischken. Nebenher lief ein bis fast auf die Knochen abgemagerter Schäferhund.

      Bei dieser Kälte zieht jemand mit dem Wagen übers Land?

      Albert kam dies nicht geheuer vor.

      Der Mann mit dem Gespann hielt an.

      »Na, Jungelchen. Wo willste denn hinne? Schlittschuhlaufen?«

      »Ja, drüben auf dem See«, stammelte Albert leicht verdutzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Fremde ihn ansprechen würde.

      »Wo wollen Sie denn bei dieser Kälte hin?«

      »Gen Westen will ich. Da wo du und deine Leute auch bald hingehen werden. Gen Westen

      Albert versuchte, sich den seltsamen Mann näher anzuschauen. Doch er sah kaum seine Nasenspitze.

      »Warum, Väterchen, sollten wir denn nach dem Westen gehen?«

      »Deiwel noch eins! Hat man dir das noch nicht gesagt? Weil de Russen kommen! Deshalb!«

      Die Russen kommen? Nach Ostpreußen? Albert wusste, dass die Front näher gerückt war. Mutter hatte heimlich am Volksempfänger gelauscht, und sie hatte ihm erzählt, dass sie Klotainen möglicherweise verlassen müssen. Sollte es wirklich bald soweit sein? Alles lief doch so wie sonst! 1944 war ein gutes Jahr, hatten die Bauern im Dorf gesagt. Die Ernte war ohne große Verluste geborgen worden, die Scheunen gefüllt. Mitte Oktober war auch die Hackfruchternte abgeschlossen worden. Die Keller waren ebenfalls gefüllt, und die Bauern hatten schon vor Wochen die Winterfurchen auf ihren Äckern gezogen.

      »Ach wo, hier kommen doch keine Russen. Das würde der Führer niemals zulassen.«

      »Das, Jungchen, das Zeugs haben die Leute in meinem Heimatdorf auch gefaselt. Doch zum Schluss hat keiner dort mehr an den Endsieg geglaubt, nicht mal die Nazibonzen selbst. Und diejenigen, die geblieben sind, die sind fast alle tot. Glaub mir Jungchen: Der Tod macht keinen Unterschied zwischen Nazis und einem aufrechten Ostpreußen.«

      Noch immer sah Albert nur den Dampf des Atems, der sich wie ein undurchdringlicher Schleier vor das vermummte Gesicht gelegt hatte.

      »Wo kommen Sie her?«

      »Aus dem Memelland, aus der Nähe von Tilsit. Und ihr, ihr solltet auch auf der Hut sein. Unterwegs habe ich die ersten russischen Aufklärungsflugzeuge gesehen. Die waren ziemlich hoch. Aber man konnte sie deutlich ausmachen.«

      »Ach Väterchen, das waren bestimmt die unsrigen!«, versuchte Albert ihm entgegen zu halten.

      »Jungchen, sag deinen Eltern, sie sollen den Wagen packen. Auch wenn sie euch etwas anderes erzählen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird hier die Hölle los sein. Glaub mir.«

      Jetzt wurde es Albert zu bunt.

      »Unsere Soldaten werden die schon aufhalten«, keifte er.