Als Bürger brauche ich kein Hochschulstudium, um zu erkennen, dass hier etwas falsch läuft.
Die Politik erweckt damit den Eindruck, Probleme nicht mehr lösen zu können. Das hängt auch mit den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen seit den 1970er-Jahren zusammen. Seit dieser Zeit erleben wir eine Verlagerung der realwirtschaftlichen Aktivitäten hin zur Finanzspekulation. Eine dadurch steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit lässt die Mittelschicht in Europa erodieren. Sie aber ist der Garant stabiler gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Enthüllungen der sogenannten „Paradise Papers“ über die Steuertricks der Reichen haben bei vielen den Eindruck verstärkt, dass die Eliten nichts von der Idee einer solidarischen Gesellschaft halten.
Von Politik- und Bürgerverdrossenheit
Die Politik kämpft dabei nicht nur mit gesellschaftlichen Problemen, sondern auch mit Problemen im Inneren. Macht isoliert und schottet immer zu einem gewissen Teil ab, im Extremen verliert sie den Bezug zur Lebensrealität und die Empathiefähigkeit. Die fehlende Durchlässigkeit der politischen Machtstrukturen wird dadurch verstärkt, dass heute die Mehrheit der Verantwortungsträger, seien es Minister, Landesräte oder Abgeordnete, fast immer Berufspolitiker sind und wenige Ankerpunkte außerhalb des Systems haben. Als Politiker lernt man Bürger dann entweder nur noch als Bittsteller mit einer Forderung oder im Netz als „Wutbürger“ kennen, aber nicht als kompetente Mitmenschen. Schwache Parlamente lassen sich Gesetze von einer immer dominanteren Exekutive zur Entscheidung vorlegen, anstatt selbst Initiative zu ergreifen. Gleichzeitig wundern sich jene engagierten und verantwortungsvollen Politiker zu Recht, wenn gute Arbeit nicht honoriert wird und pauschal eine gesamte Klasse mit Verachtung vorverurteilt wird. Die jährlich wiederkehrenden Diskussionen um die scheinbar zu hohen Politikergehälter tragen außerdem dazu bei, dass auch in der Politik eine „Bürgerverdrossenheit“ zu verspüren ist.
Dieses Gefühl ist jedoch teilweise auch berechtigt. Zu oft erlebt man, wie Bürger ihr egoistisches Eigeninteresse über das öffentliche stellen. Schnell ist eine Initiative gegründet, um gegen dieses oder jenes Bauvorhaben zu mobilisieren, auch wenn dieses dem Gemeinwohl dienen sollte. Auf Englisch werden diese militanten Verhinderer „Nimbys“ genannt, nach den ersten Buchstaben von „Not in my backyard!“. („Nicht in meinem Hinterhof!“)
Die Menschen sind es gewohnt, in der „Alles-und-sofort“-Konsumkultur ihre Wünsche schnell befriedigen zu können und verzweifeln oft an der Langsamkeit von politischen Entscheidungsprozessen, weil ihnen das nötige Verständnis für die Notwendigkeit der Abwägung und Kompromissfindung fehlt, die unsere Demokratie auszeichnet. Die Apathie, die sich über Jahrzehnte durch eine sinkende Wahlbeteiligung manifestiert, ist ebenso wenig gerechtfertigt wie das Ignorieren legitimer Bürgeranliegen durch die Politik. Bürgerschaft und Politik scheinen sich also auseinandergelebt zu haben und Misstrauen prägt ihr Verhältnis.
Verantwortung für unseren Planeten Erde übernehmen
Dabei brauchen besonders Zeiten der Veränderung Handlungsfähigkeit und Vertrauen ineinander, denn die Probleme, die unsere Gesellschaften zu bewältigen haben, sind enorm. Zu oft blenden wir sie aus, denn wir haben uns gut eingerichtet in unserer marktkonformen Gesellschaft, die über Jahrzehnte versprochen hat, dass es jeder nächsten Generation materiell besser gehen wird. Wir spüren nun, dass diese Erzählung nicht mehr trägt und sich auch das über 12.000 Jahre dauernde Erdzeitalter Holozän überholt hat. Das Ende dieses Erdzeitalters, das unserem Planeten über lange Perioden stabile ökologische und klimatische Bedingungen beschert hat, ist ganz unaufgeregt eingeläutet worden. Die Wissenschaftler der Internationalen Stratigrafischen Gesellschaft haben entschieden, dass genügend Evidenz vorliegt, um ein neues Erdzeitalter mit dem Namen Anthropozän auszurufen. In ihm ist der Mensch der bestimmende Faktor im Ökosystem. Jetzt müssen die Wissenschaftler nur noch festlegen, welche Marker in den Sedimentschichten des Planeten den offiziellen Beginn am besten darstellen. An Auswahl mangle es nicht, so die Geologen: Sie reicht von radioaktiven Sedimenten, die wir den ersten Atomtests der 1950er-Jahre verdanken, bis zum massiven Auftauchen von Hühnerknochen – dem Totemtier der Massentierhaltung schlechthin – auf den Mülldeponien unseres Planeten. Irgendwo in den Dekaden der Babyboomer der 1950er- und 1960er-Jahre wird er aber liegen, der offizielle Beginn unserer planetarischen Allmacht.
Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die dem Globus wieder Respekt und Würde verleiht und unsere planetarischen Grenzen respektiert? Wie gelingt der Kulturwandel hin zu einem „Planetary Stewardship“, also einer Haltung von globaler Verantwortung und Fürsorge, wenn der Konflikt mit den Naturgewalten und Mangelsituationen, denen der Mensch über Jahrtausende ausgeliefert war, so tief in unserem Unterbewusstsein verankert scheint? Kein anderer als das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, stellt diese Frage in seiner 2015 veröffentlichten Enzyklika Laudato si. Es mag ironisch sein, dass der höchste Vertreter einer Institution, die über Jahrhunderte hinweg nicht gerade ein Treiber von Aufklärung und Wissenschaft war, nun auf Basis fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse als Mahner für Umwelt und Klimaschutz auftritt. Doch das macht seine Fragen nicht minder relevant.
Konfliktlinien brechen auf
Über diese Fragen nachzudenken, ist in Zeiten wie diesen mehr als dringlich, denn große Konfliktlinien brechen gerade auf: zwischen Generationen, zwischen Nationalstaaten und zwischen den Menschen in erfolgreichen Technologiezentren und Menschen an der Peripherie – um nur einige zu nennen. Das bringt eine supranationale Institution wie die Europäische Union in Bedrängnis. Dennoch ist die EU wohl das erfolgreichste Beispiel von Kooperation und Konfliktlösung beziehungsweise -vermeidung. Ihre größte Leistung ist es, Institutionen geschaffen zu haben, in denen man „gemeinsam handelt“. Doch in den jetzigen Krisenzeiten kann sich offenbar niemand in Europa wirklich vorstellen, über das eigene Heimatland hinaus solidarisch zu sein.
Eine kleine Minderheit fordert eine Europäische Republik und damit die Aufgabe der Nationalstaaten. Die Desillusionierten hingegen wollen eine Reduktion der Verantwortung der Union auf den Binnenmarkt und den gemeinsamen Schutz der Außengrenzen. Sie sind bereit, dafür eine Grundfreiheit Europas, die Personenfreizügigkeit, zu opfern. Doch in ein Konglomerat, das auf Grenzschutz und Binnenmarkt reduziert ist, werden sich die Bürger auch nicht verlieben.
Besonders deutlich haben uns die Flüchtlinge, die 2015 und 2016 in Europa ankamen, die Bruchlinien der Union aufgezeigt. Ihr Schicksal stellt uns vor die Frage, wer wir überhaupt sind und welche Werte wir vertreten. Was heißt es, Europäer zu sein, was erwarten wir von Neuankömmlingen, wofür stehen wir selbst? Flüchtende fordern von uns Antworten auf diese Fragen. Ohne zivilisiert ausgetragene Konflikte wird es nicht gehen. Wir werden nicht fähig sein, ein friedliches Zusammenleben mit Menschen aus fremden Kulturen zustande zu bringen, wenn wir selbst nicht wissen, wohin wir wollen.
Der Evolutionsbiologe Martin Nowak hat belegt, dass Systeme, die auf Kooperation aufbauen, langfristig überlebensfähiger sind. Die ersten zivilisatorischen Errungenschaften erlebten sie durch eine Höchstform der Kooperation mit Natur und Tier im Übergang zur Sesshaftigkeit und später im Kollektiv in der Gründung von Städten.
→ Probleme wie der Klimawandel und die Migration fordern unsere Problemlösungskompetenz. Zentralisierte, hierarchische Wege der Entscheidungsfindung sind mit zunehmender Komplexität der Herausforderungen fehleranfälliger als inklusive Prozesse, die auf Zusammenarbeit und die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven setzen.
Die Demokratie als hohe Schule der Kooperation und Friedenswerkzeug ist in die Jahre gekommen – aber was wäre, wenn wir sie in einer freundlichen Revolution neu entdecken? Doch welche Strukturen sind überhaupt dafür geeignet? Wie und wo erlernen wir das Kooperieren im komplexen Umfeld? Wie können wir im Zeitalter der Skepsis Vertrauen zwischen Bürgern, demokratischen Institutionen und der Politik wiederherstellen? Wie die kollektive Intelligenz einer Gesellschaft erfolgreich nutzen? Diese Fragen werden in beispielgebenden Geschichten über freundliche Revolutionäre aus ganz Europa in den kommenden Kapiteln beantwortet.
Die freundliche Revolution
Wir würden uns ja gerne engagieren, aber wie? Fahnenschwenkend am Hauptplatz stehen und für Europa singen wird die Feinde der Demokratie