Jens Böttcher

Karl May


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so lange als guter Schriftsteller galt, bis irgendwelche Missetaten aus seiner Jugend bekannt wurden. Angenommen aber, er hat sie begangen, so beweist mir das nichts gegen ihn – vielleicht sogar manches für ihn. Jetzt vermute ich in ihm erst recht einen Dichter!«

      Martin Walser: »Ich bin ein Karl-May-Bewunderer: immer schon gewesen und geblieben. Ich glaube, dass er für jedes Lebensalter geschrieben hat. Als ich ihn früher las, las ich das Abenteuerliche; heute glaub ich, es war das Tröstliche im Abenteuerlichen, das ihn so lesenswert macht.«

      Irgendwann einmal war ich aber gelassen genug, nicht mehr bei jeder Gelegenheit den May-Apologeten zu spielen. Rechtfertigungsdrang kommt ja immer aus einer eigenen Unsicherheit heraus. Das ist beim religiösen Fundamentalismus nichts anderes. Wer wirklich gewiss ist, dass er für sich und sein Leben etwas Gutes entdeckt hat, lernt damit umzugehen, dass andere über dasselbe Thema anders denken.

      Dass Karl May tatsächlich zum »Guten« gehört, zu dem, was mein Leben nachhaltig bereichert hat, ist für mich jedenfalls heute gewiss, auch wenn er sich als christlicher Mentor nur vorübergehend auf meinem Lebensweg behaupten konnte. Die Ernsthaftigkeit seiner christlichen Überzeugung und seine Wahrheitsliebe in religiösen Fragen nehme ich May aber trotzdem noch heute ab. Davon, dass er mit seinen Büchern an mir und anderen Gutes bewirkt hat, bin ich überzeugt.

      Neben der »inneren« Prägung durch ihn führte die Beschäftigung mit seinem Werk zu vielen besonderen Erlebnissen: Karl May hat mir zum Beispiel noch einen Einblick in die letzten Jahre der deutschen Demokratischen Republik ermöglicht. In der Karl-May-Gesellschaft übernahm ich damals die Patenmitgliedschaft für einen DDR-Bürger, der mich bald darauf einlud, mit ihm die Karl-May-Stätten in Hohenstein-Ernstthal und Radebeuel zu besichtigen. Durch die entstandenen Freundschaften erlebte ich die politische Wende natürlich anders mit, als es ohne Ostkontakte der Fall gewesen wäre.

      Eine besondere Sache war auch die sogenannte »Winne-Tour« nach Texas und Neu-Mexiko, die ich zusammen mit 40 Karl-May-Freunden aller Altersgruppen unternahm: Sozusagen eine Reise auf den Spuren eines Mannes, der seine Fußstapfen dort nie hinterlassen hatte. May hat ja alle Reisen über die Prärien und durch die Schluchten des mittleren Westens der USA nur in der Fantasie unternommen. Inzwischen aber kennen ein paar Leute dort den Namen Karl May und wissen, warum die Deutschen über die Geheimnisse des Llano Estacado besser Bescheid wissen als die Einheimischen. Im Jahr 2000 hat ihm die Texas Tech University in Lubbock ein Symposium gewidmet.

      Kostbare Erinnerungen: die früheren Tagungen der Karl-May-Gesellschaft mit Festvorträgen des ehrwürdigen Professors Dr. Heinz Stolte, der bereits 1936 seine Doktorarbeit zum Thema Karl May geschrieben hat. Oder das »Karl-May-Fest« in Berlin mit einer rauschenden Ballnacht zum 80. Geburtstag des Filmproduzenten Artur Brauner. Außerdem natürlich einige Festspielbesuche (Bad Segeberg, Rathen, Elspe, Weidensfeld/Österreich).

      Zuletzt inspirierte Karl May mich literarisch: Mit der Adaption einer May-Geschichte zu einem »Winnetou«-Hörspiel kehrte ich zu meinen frühesten literarischen Wurzeln zurück (ich hatte ja in Schulheften Hörspiele nacherzählt). Und Karl May hat sich sogar in meinen Roman »Aljoscha. Eine Geschichte vom Suchen und Finden« eingeschlichen, der eigentlich Dostojewski gewidmet ist. Von ihm habe ich schließlich den Optimismus übernommen, dass man mit Büchern die Welt ein bisschen freundlicher und liebevoller machen kann.

      Ich fühle mich durch Karl May für mein Leben beschenkt, obwohl die biografische Forschung der letzten Jahrzehnte manches an seiner Persönlichkeit entzaubert hat. Ich werde in diesem Buch nicht umhinkommen, auf einige problematische Seiten seiner Persönlichkeit einzugehen. Aber wir müssen ja nur in unser eigenes Inneres blicken, um zu erkennen, dass Widersprüchlichkeit ein Teil unserer Existenz ist. Im richtigen Leben konnte May nicht immer der Edelmensch sein, den er in seinen Büchern verkörperte. Aber als Mensch, der so stark in seinen Büchern lebte, würde er vielleicht in einem »jüngsten Gericht« als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi beurteilt, wenn er nicht ohnehin unter den Gnadenerlass fiele. »In dieser Seele loderte das Feuer der Güte«, schrieb die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner unmittelbar nach dem Tode Mays.

      Jeder, der es unternimmt, der umfangreichen Literatur über Karl May noch ein Buch hinzuzufügen, sollte eine Rechtfertigung parat haben. Ein überflüssiges Buch ist in meinen Augen ärgerlich. Ich hoffe, dass dieses kleine Buch, das für May-Fachleute eigentlich nichts »Neues« enthält, dennoch Sinn macht, weil es Menschen erreicht, die mit der existierenden Fachliteratur mutmaßlich nie in Berührung kämen. Zudem ist manches gute Buch über Karl May in Vergessenheit geraten, kaum mehr erhältlich oder schwer zu lesen.

      Ich will einige Fakten zu Karl May liefern, vielleicht einigen immer noch verbreiteten populären Irrtümern auf den Pelz rücken, vor allem aber der bunten Vielfalt im Karl-May-Kosmos meine Referenz erweisen. Die eigenen Erlebnisse rund um den sächsischen Fantasten zeigen mir, dass Karl May ein Thema fürs Leben sein kann, selbst wenn man nicht einem »Karl-May-Kult« verfällt.

      Immer wieder wird im Folgenden von Mays Glauben die Rede sein, der beinahe in jedes seiner Werke einfloss. Als Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand hat er in den Reiseerzählungen manches tiefsinnige Gespräch mit den Gefährten geführt, zuweilen regelrecht seelsorgerlich. Der Lotse Karl May, der seine Leser so sicher und behaglich durch exotische Landschaften führte und die Zuversicht einflößte, jeder Gefahr erfolgreich zu trotzen, konnte durchaus Gottvertrauen vermitteln.

      Bewusst lasse ich persönliche Empfindungen einfließen, wobei ich überzeugt davon bin, hier und da von anderen Karl-May-Lesern ein wissendes Lächeln zu ernten. Was Fakten angeht, habe ich mich darum bemüht, verlässlich zu sein. Wo man sich um den »wahren Karl May« und die angemessene Pflege seines Vermächtnisses streitet, will ich kein Öl ins Feuer gießen.

      Erster Teil

      · Leben ·

      Blindheit und Armut

      Obwohl das Leben Karl Mays heute nahezu lückenlos erforscht ist, sind über ihn immer noch diverse Mythen im Umlauf. Meist ist er selbst die Quelle, vor allem, weil er sich so stark mit den Helden seiner Reiseerzählungen identifizierte, dass er auf Vortragsreisen erzählte, er habe die in seinen Büchern geschilderten Abenteuer als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi wirklich erlebt. Diese »Old-Shatterhand-Legende« wurde zwar schon zu Lebzeiten nachhaltig erschüttert, aber Freunde und Feinde Mays sorgten noch jahrzehntelang nach seinem Tod dafür, dass sich populäre Irrtümer über ihn hartnäckig behaupteten. Dies gilt sowohl für Verbrämungen als auch für Verleumdungen.

      Die Hüter seines Vermächtnisses, die Witwe Klara May und der Gründer des Karl-May-Verlages, Euchar Albrecht Schmid, meinten das Ansehen Mays dadurch zu schützen, dass sie den Anschein wahrten, er habe sicher, oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit, in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts Nordamerika und den Orient bereist und gute Englisch-, Arabisch- und sonstige Sprachkenntnisse besessen. Auf dem anderen Ende der Skala verbreiteten sich Gerüchte, Karl May habe alle seine Bücher im Gefängnis geschrieben und er sei zeitweise Anführer einer Räuberbande gewesen. Vor allem habe er seine Leser permanent betrogen und von anderen Autoren abgeschrieben.

      Heute lässt sich Wesentliches aus Mays Vita durch Dokumente belegen. Zudem hat man gelernt, dass etwaige Flecken in einem Lebenslauf nicht alles über menschlichen Wert oder Unwert aussagen. Und schon gar nichts über literarische Befähigung! Beides wurde im Fall von Karl May immer wieder munter vermischt. Inzwischen liefern viele Bücher differenzierte Vorstellungen über die Persönlichkeit des Sachsen.

      Aber bisweilen eröffnen sich durch akribische Nachforschungen neue Rätsel. Vor einigen Jahren konnte man zum Beispiel noch wesentlich unbefangener in eine Lebensbeschreibung Mays einsteigen. Da nahm man als ziemlich gesichert an, dass die blühende Fantasie des Schriftstellers darauf zurückzuführen sei, dass der am 25. Februar 1842 in Hohenstein-Ernstthal geborene Sohn eines Webers aufgrund von Mangelernährung oder einer Infektion erblindete und erst im 5. Lebensjahr wieder sehend wird. Mays Mutter absolviert zu dieser Zeit eine Hebammenausbildung in Dresden und lernt einen Arzt kennen, der sich des Jungen annimmt und ihn erfolgreich operiert. So schildert es Karl May 1910 in seiner Autobiografie »Mein Leben und Streben«. Einen ersten literarischen