Daniel-Pascal Zorn

Einführung in die Philosophie


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Einführung abhängig sind. Sie führen nicht selten in den weiter oben skizzierten Forschungsdiskurs hinein, versuchen den Leser oder die Leserin für eine bestimmte Perspektive zu gewinnen und damit die eigene Relevanz zu erhöhen.

      Doch eine solche Vorgehensweise gibt letztlich die eigene Verantwortung nur an den Leser oder die Leserin weiter. Wo diese eine Einführung in ein Fach, eine Disziplin, eine Denkweise erwarten, die sie bisher nur undeutlich unter dem Begriff »Philosophie« verstanden haben, wird ihnen eine Sichtweise auf die Philosophie präsentiert, zu der es potenziell unendlich viele Alternativen gibt. Wer solche Einführungen liest, der läuft Gefahr, sowohl die ungenannten Voraussetzungen, die stillen Überzeugungen, als auch die deutlich ausgesprochenen Meinungen über die Philosophie – und die Philosophen – vom Autor zu übernehmen. So ist es kein Wunder, dass wieder andere Einführungen in die Philosophie die philosophische Tradition in Denkschulen von Meinungen über Philosophie einteilen, deren weltanschauliche Auseinandersetzung bis heute andauert und tendenziell als unlösbar gilt. Die Vielfalt von Zugängen auf die Philosophie in den tradierten philosophischen Texten spiegelt sich in der Vielfalt der Zugänge auf diese Texte in der Einführungsliteratur. Was sich als Orientierungshilfe ausgibt, vervielfältigt die Pfade, die sich verzweigen, und lässt den Leser oft ratloser zurück als vorher.

      Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit, die vermeintlich unlösbare Aufgabe zu bewältigen, eine Einführung zu schreiben, die selbst einen philosophischen Standpunkt einnimmt. Anstatt einen bestimmten Philosophiebegriff als gegeben vorauszusetzen – und damit die Vorstellungen des Lesers von der Philosophie einschränkend vorzuprägen –, nimmt die vorliegende Einführung drei Vollzugsweisen in den Blick, die die philosophische Tradition insgesamt auszeichnen. Diese Vollzugsweisen sind so grundlegend, dass sie als Ausgangspunkt zunächst sogar banal erscheinen. Sie scheinen nicht recht zur Philosophie dazuzugehören, scheinen vielmehr zu denjenigen selbstverständlichen Voraussetzungen zu gehören, die man zu einem Philosophiestudium schon mitbringen muss. Die vorliegende Einführung wird sich bemühen, diese Vorstellung selbstverständlicher Voraussetzungen auf bestmögliche Weise philosophisch zu irritieren. Das tut sie, indem sie diese Voraussetzungen als philosophisches Problem betrachtet – und dabei ein Beispiel dafür gibt, was es überhaupt heißen kann, etwas als philosophisches Problem zu betrachten.

      Die erste Vollzugsweise ist die Lektüre. Sie ist Thema des ersten Teils der vorliegenden Einführung und zugleich die conditio sine qua non philosophischen Denkens. Die philosophische Tradition ist zu einem Großteil der Lektüre und Relektüre früherer Philosophen gewidmet, der Aneignung und Kritik der bereits vorliegenden Argumente und Denkfiguren. Nahezu jeder Philosoph liest andere Philosophen und gewinnt aus der Auseinandersetzung mit ihnen seinen eigenen Standpunkt. Soweit man den Texten entnehmen kann, übertreffen dabei philosophische Vorbildung, Aufmerksamkeitsspannen und Lektüredimensionen, Vielfalt und schiere Menge der gelesenen Texte heutige Lektüregewohnheiten bei Weitem. Das ist bei einer über zweitausendjährigen, beinahe ausschließlichen Schriftkultur kein Wunder. Nimmt man dann noch den heutigen Trend zur Digitalisierung, zur Verbildlichung des Sprachlichen, zur Abkehr vom Text und die Hinwendung zu intuitiveren Rezeptionsweisen hinzu, dann scheint die Zeit der genuin textlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie vorbei zu sein.

      Doch Lektüre bemisst sich nicht an einem linearen Verhältnis der Menge der Texte zur Weite des Wissens. Wer lernt, in seiner Lektüre auf bestimmte Aspekte zu achten, der kann das, was er in oder an einem Text lernt, auf alle anderen Texte anwenden. Verschiedene Aspekte der Lektüre lassen sich kombinieren und bringen neue, unerwartete Aspekte des gelesenen Textes hervor. Und so entwickelt sich in dieser Kombination eine Lektürekompetenz, die in relativ kurzer Zeit nicht nur viel mehr und komplexere Texte zu bewältigen imstande ist, sondern die auch mehr am einzelnen Text zu sehen und ihn zu anderen Texten in Beziehung zu setzen vermag. Wer in die Lektüre philosophischer Texte einführen will, der darf die Aufmerksamkeit des Lesers nicht mit vorgefertigten Schablonen lenken. Er muss diese Aufmerksamkeit vielmehr dazu befähigen, die eigenen Einsichten des vorigen Schrittes für den nächsten Schritt mit zu bedenken.

      Wenn es also Ziel des ersten Abschnitts dieser Einführung ist, dem Leser oder der Leserin – provokativ gesagt – allererst das Lesen beizubringen, dann geht es weniger darum, ihnen vorgefertigte Textarten und Kategorien zur Bewertung philosophischer Texte an die Hand zu geben. Vielmehr soll es darum gehen, sie zur Lektüre philosophischer Texte zu ermächtigen – und damit auf die Einsicht hinzuweisen, dass sie es am Ende selbst sind, die sich zu dieser Lektüre, die dann ihre Lektüre sein wird, ermächtigen können. Dieses didaktische Interesse schwebt aber nicht in der Luft. Es wird zurückgebunden an den konkret gegebenen Text, der das Gemeinsame aller seiner Leser und Leserinnen ist.3 In dieser Kombination aus ermächtigender Didaktik und philologischer Strenge wird es möglich, hermeneutische Pathologien zu überwinden, die Generationen von Philosophen in unproduktive Kommentarregresse und erstarrte Ehrfurcht gegenüber den großen Philosophen geführt haben. Der Leser und der Text – in der Annahme dieses einfachen Verhältnisses besteht der erste Schritt in die Philosophie.

      Die zweite Vollzugsweise der philosophischen Tradition ist die Diskussion. Auch wenn sie in der Gegenwart vor allem auf hochspezialisierten Fachkongressen und populärwissenschaftlichen Life-Style-Messen vollzogen wird, erschien sie doch in den vergangenen 2500 Jahren in verschiedenen Formen. So gab es schon vor Platons Entscheidung, durch die Form des Dialogs selbst in die Philosophie einzuführen, in Athen eine rege öffentliche Debatte, die sich auf Texte wie auf öffentliche Redebeiträge stützte. Sokrates’ Gespräche auf dem Marktplatz sind zum Symbol für »die Philosophie« geworden, in der Traktate und andere Werkformen lange Zeit nur Niederschlag dieser lebendigen Debatte waren.

      Auch andere exemplarische Orte wie der Garten oder die Säulenhalle waren von der Antike bis weit in die Neuzeit Zeichen für den philosophischen Dialog in der Gemeinschaft aller an ihm Teilhabenden. Ein kleiner städtischer Platz in den Außenbezirken von Alexandria, eine weitläufige Gartenanlage in Süditalien, ein Schulzimmer in einer mittelalterlichen Kathedralenschule oder ein Salon in den Hinterzimmern der feineren Gesellschaft – Philosophen haben stets Räume gewählt, in denen das gemeinsame Denken möglichst frei zirkulieren konnte. Sie waren geschult im Gespräch, nicht nur rhetorisch und polemisch, auch analysierend, zuhörend und ergänzend – und ihre Fertigkeiten schlagen sich in den Texten nieder, die ihre Nähe zu stundenlangen Debatten mit Garten- und Hausgesellschaften oft nicht verbergen können.

      Diese Praxis des freien Dialogs, die Aufmerksamkeit auf Begründung und Voraussetzung, nannte Platon, nach dem griechischen Begriff für das Gespräch, Dialektik. Blickt man mit einem dialektischen Verständnis auf den gegenwärtigen öffentlichen Diskurs, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass die jahrtausendealten Kulturtechniken – bis auf wenige Fragmente – vergessen sind. Der heutige öffentliche Diskurs wird von dem beherrscht, was noch bei Platon Sophistik heißt, also von der selbstverständlichen Inanspruchnahme von Fehlschlüssen und logischen Tricks, um das Gegenüber in die Bestätigung der eigenen Sichtweise zu locken. Wo die Sophistik sich nicht durchsetzen konnte, beherrscht ein versteinertes Methodenverständnis die wissenschaftliche Debatte. Politischer und gesellschaftlicher und wissenschaftlicher und philosophisch-methodischer Diskurs – alle neigen dazu, sich gegenüber allen anderen zu verabsolutieren.

      Im zweiten Teil dieser Einführung sollen dem Leser und der Leserin daher die Grundtechniken fairen, sachlichen und dialektisch aufmerksamen Diskutierens wieder nähergebracht werden. Dialektisch heißt dabei nicht gleich: platonisch oder aristotelisch, sondern es bedeutet, dass die im ersten Abschnitt erlernte Aufmerksamkeit der Lektüre auch im Dialog nützliche Beschreibungen hervorbringen kann. Zugleich stellt sie die selbstverständliche Vorherrschaft der sophistischen Rhetorik und des wissenschaftlichen Schubladendenkens in Frage. Wer gelernt hat, auf selbstkritisch reflektierte Weise zu diskutieren, der kann erfahren, dass Philosophie geschieht, wo wir uns begegnen, um miteinander zu sprechen.

      Die im dritten Teil der vorliegenden Einführung behandelte Vollzugsweise