Marge Piercy

Er, Sie und Es


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Jahr am Versöhnungstag verliest er von der Kanzel ein Gedicht von Avigdor Kara. Es betrauert die dreitausend Juden, die hingemordet wurden, als das Prager Ghetto von einer mit Schwertern, Streitkolben, Spießen und Sicheln bewaffneten Meute überfallen wurde. Hinterher verurteilte der königliche Schatzmeister die Juden wegen Anstiftung zum Aufruhr zu einem Bußgeld von fünf Tonnen Silber. Obwohl Rudolf geneigt ist, sie zu schonen, so hat er andere, dringlichere Geschäfte. Die Juden sind entbehrlich. Die reichen Bürger der Stadt hassen sie. Als sichtbar abgesondertes Volk sind sie immer in Gefahr. Die Gegenreformation nimmt an Heftigkeit und Stoßkraft zu. Die Kirche ist kriegerisch und erbost über die Widerspenstigkeit der Juden, so ähnlich der widerspenstigen Weigerung der Protestanten, doch leichter zu brechen.

      Eine neue Gefahr ist die Blutbeschuldigung. Zu Pessach öffnen wir jedes Jahr am Seder-Abend die Tür, um Elia, den großen Propheten der Hoffnung und der Freiheit, einzulassen, wenn er zu uns kommen will. Ich kann mich erinnern, wie ich Riva erklärt habe, ich kann mich erinnern, wie ich Shira erklärt habe, und auch Gadi, ja, denn zu der Zeit war Sara zu krank, um den Seder zu machen, und Avram und Gadi kamen beide zu uns, wie diese Sitte in den schrecklichen Jahren der Blutbeschuldigung entstand. Damals glaubten die Christen, die Juden täten das Blut von Christenkindern in die Pessachmatze. Es ist eine Verballhornung der Geschichte vom Exodus, dem Tod der Erstgeborenen und der jüdischen Kinder, die vom Todesengel verschont wurden, eine Verwechslung mit dem Seder-Wein, der sich in ihrer Messe in Blut verwandelt. Was haben wir mit Blut zu tun, denen verboten ist, es zu verzehren? So begannen wir, die Tür zu öffnen, um zu zeigen, dass wir nichts zu verbergen haben. Wird Shira je wieder zu Pessach nach Hause kommen? Erst verheiratet mit dieser arroganten, zerbrochenen Kreatur. Jetzt geschieden, doch sie trödelt herum in der abgekapselten Konzernwelt.

      Eine andere zunehmende Gefahr ist der Priester Thaddeus, der eigens aus Spanien nach Prag gekommen ist, um die Ziele der Inquisition zu verwirklichen. Er will einfach nicht glauben, dass Rudolf den Juden von Prag gestattet, ein Verlagshaus zu unterhalten, das Bücher in Hebräisch druckt, dass er ihnen erlaubt, Prozessionen abzuhalten und, wenn auch unter Anfeindungen, Gewerben und Künsten nachzugehen. Er will nicht glauben, dass des Kaisers eigener Mathematiker, der große Astronom Tycho Brahe, den Juden David Gans als Kollegen behandelt und in seinem Observatorium arbeiten lässt, dem modernsten in ganz Europa, oder dass Johannes Kepler, Brahes hochbegabter Gehilfe, sowie weitere Gebildete der Stadt die Kabbala lesen und erörtern. Hier in Prag führen Juden und Christen miteinander Streitgespräche über ketzerische Ideen wie die, dass die Planeten sich um die Sonne drehen, und sie werden nicht raschestens zum Widerruf gezwungen oder auf dem Marktplatz verbrannt – noch nicht. Aber Thaddeus hat seine grimmige Pflicht zu erfüllen. Er ist ein Gefäß, durch das die Leidenschaft für das, was er für die Wahrheit hält, in Sturzfluten braust. Wie Savonarola in Florenz, der einen Scheiterhaufen aus Kunstwerken errichtete, die ihm sinnlich und sittengefährdend schienen, der alle Renaissance-Gemälde verbrannte, deren er habhaft werden konnte. Thaddeus ist ein feuriger Redner, der eine Menge mit Leichtigkeit aufwiegelt. Menschen in Gruppen sind die Orgel, auf der er gern spielt. Vor allem ist sein Hass aufrichtig. Er sieht in den Juden eine Seuche, die durch Europa kriecht, wie zweihundertfünfzig Jahre zuvor den Juden die Pest zur Last gelegt worden war. Es ist eine geistige Pest, die er in Prag grassieren sieht. Gefährliches Denken ist die Seuche, die Seelen verdirbt.

      Der öffentliche Disput wird an einem Sonntag vor einer riesigen Menge abgehalten. Judah muss versuchen, angesichts einer feindseligen und fanatischen Zuhörerschaft Stimmengleichheit zu wahren. Und genau das erreicht er um Haaresbreite, er kontert, er attackiert, aber er bricht den Angriff stets vor dem Sieg ab. Es ist ein langer Tanz in der Sonne des überfüllten Platzes, ein Tanz mit Schwertern und Feuer. Ein Tanz, der immer formeller wird, so dass die Menge sich zu zerstreuen beginnt, während der Maharal Thaddeus vom hohen Sockel der Redekunst herunterschmeichelt in das knorrige Labyrinth aus Philosophie, Theorie, Zitat, Übersetzungsfragen. Thaddeus wird verleitet zu Haarspaltereien über immer feinere Einzelheiten, untermauert von Zitaten und winzigen Unterschieden. Als es ihm endlich gelingt, sich daraus zu befreien, ist die vereinbarte Zeit verstrichen. Keiner hat gewonnen, und Thaddeus ist wütend, denn zu spät erkennt er die Kriegslist des Maharal – ihn in formelle Diskurse zu locken, die die blutrünstige Menge langweilen, ihn in akademische Erörterungen zu locken, die den Maharal als Gleichen behandeln und nicht als den Satan in Person. Die Menge kam zu einem Turnier und erlebte ein Seminar.

      Der Maharal hat keine Zeit, sich an seinem geknebelten Sieg zu erfreuen. Ostern ist eine gefährliche Zeit und Ostern steht vor der Tür. Zu Ostern rotten sich oft Horden zusammen und schlagen drein. Zu Ostern kann es geschehen, dass angesehene Juden ergriffen und gefoltert werden, bis sie gestehen oder sterben.

      Judah betet und fastet und bringt sich in Einklang mit den höchsten Sphären gemäß den Regeln der Kabbala durch die Speichen aller Emanationen bis hin zu dem All, welches das Nichts ist, das En Sof. Thaddeus ist erzürnt und wird seine Rache nehmen. In Judah kommen der Zaddik – der Gerechte – und der Chassid – der Fromme – zusammen. Ein Mystiker und ein Handelnder, tätig, leidenschaftlich, getrieben, kann sich Judah nie in seiner Meditation verschließen und die Gemeinde vergessen. Er betet und fastet und fastet und betet um eine Antwort auf die Gefahr, die er riechen, schmecken kann.

      Dann, am siebenten Fastentag, schläft der Maharal über seinem Arbeitstisch ein, auf dem sich die hebräischen Seiten türmen, alte und neue Bücher und Reinschriften von Manuskripten fünfzig Gelehrter. Ihm träumt, er steht auf dem jüdischen Friedhof, inmitten der dicht gedrängten, windschiefen Grabsteine, die an die Seiten eines aufgeblätterten Folianten erinnern. Überall wehklagen Menschen und heben hastig Gräber aus. Er sieht einen Hügel aus bleichen Leibern, alle übereinandergeworfen. Er hat die zierliche Pinkas-Synagoge vor sich, und während er ihre Wand anschaut, schreibt eine Hand aus Licht das Wort GOLEM. Von rechts nach links schreibt sie immer wieder dieses Wort. Dann ruft eine Stimme, die ihm in den Ohren brennt, seinen Namen, einmal, zweimal. »Judah, du musst einen Golem aus Lehm machen, damit er aufsteht und das Ghetto bewacht und dein Volk rettet. Zaudere nicht. Steh auf und mache einen Golem.«

      Yod, die Fähigkeit, Visionen zu sehen, ist eine von jenen menschlichen Begabungen, die gedeihen, wenn sie von einer Gemeinschaft belohnt werden, und die in den meisten von uns verdorren, wenn sie von der Gemeinschaft bestraft werden. Das heißt, ob die Fähigkeit, die Hand von ha-schem an die Wand schreiben zu sehen, Anerkennung einbringt für deinen frommen und prophetischen Scharfsinn oder ob du deswegen in der Klapsmühle landest, entscheidet darüber, wie viele Menschen in einer Gemeinschaft es sich zur Gewohnheit machen, das zu sehen, von dem andere meinen, es sei nicht wirklich da. Der Maharal hat die Fähigkeit entwickelt, Visionen zu sehen, denn sie ermöglichen ihm, zu meditieren, seinen Geist zu klären und das zu erfassen, was er für höhere Wahrheit hält. Aber wie die meisten Juden seiner Tradition hört er öfter Stimmen, und die Stimmen unterweisen ihn in seiner Pflicht.

      Was ist der Golem, den zu machen ihm die Stimme befiehlt? Ein Wesen in menschlicher Gestalt, nicht vom ha-schem gemacht, sondern von einem anderen Menschenwesen vermittels esoterischen Wissens, insbesondere durch die Macht der Worte und Buchstaben. Das Sefer jezira, das mystische Buch der Schöpfung, soll das enthalten, was man meistern muss, um mit der Macht der Namen G-s und der Macht der Buchstaben und Zahlen einen Golem zu formen. Kabbalistische Tradition berichtet uns von vielen Weisen und Heiligen, die einen Golem erschufen, nicht zu irgendeinem Zweck, sondern als mystischen Ritus. Sie machten und zerstörten die wandelnden Lehmmänner, vereinten sich dabei mit der Schöpfungskraft und versetzten sich durch Gesang und den Schöpfungsakt in höchste Verzückung. Es war eine der Ruhmeskronen, die ein wahrhaft Heiliger tragen konnte. Gelegentlich wird uns auch von Weisen berichtet, die sich einen Golem zu privaten Zwecken machten, um Botschaften zu überbringen, das Haus sauber zu halten, so wie wir dafür Roboter benutzen, und diese Golems waren sowohl stumm als dumm.

      Einzigartig ist, dass Judahs Golem nicht erfunden werden soll, um des Rabbis meisterliche Beherrschung des esoterischen Wissens zu beweisen. Ihm ist aufgetragen, so glaubt er, einen Golem zu erschaffen, der kämpfen, wachen, retten soll. Deshalb muss dieser Golem mit Verstand und der Gabe der Sprache geformt werden. Er soll eine Ein-Mann-Armee werden. Von dem Moment an, da Judah die Hand ›golem‹ schreiben sieht und die Stimme hört, die ihm zuruft, aufzustehen und dieses Geschöpf zu erschaffen, fragt er sich: Werde ich das