Marge Piercy

Er, Sie und Es


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Fähigkeit hat, sich zu konzentrieren und zu lernen.«

      »Jedenfalls bin ich nicht deine Mutter«, sagte Shira unverblümt. »Ich habe einen Sohn.«

      »Avram ebenfalls«, sagte Yod. »Außer mir. Aber es ist mir verboten, Gadi kennenzulernen. Werde ich deinen Sohn kennenlernen?« Es überwachte ständig den Raum, es verhielt sich, als rechnete es damit, dass ein Stuhl sie ansprang und attackierte.

      »Es wäre schön, wenn das möglich wäre«, sagte sie. »Er ist mir weggenommen worden.«

      »Malkah hat mir davon erzählt«, sagte Avram. »Eine Schande. Aber immerhin hat dich das hergebracht, nicht wahr?«

      »Es hat mich hergebracht, ja.« In einer Anwandlung heftiger Verzweiflung wandte sie sich von beiden ab. Als sie heranwuchs, war ihr Avram nie wie ein richtiger Vater vorgekommen, so wie die Väter ihrer Freundinnen, er war vielmehr genial, fremd, gepanzert. Sie selbst hatte nie einen Vater gehabt. Deshalb hatte sie beschlossen, dass ihr Kind beide Eltern haben sollte, auf altmodische Art. So viel zu diesem Hirngespinst. Jetzt betrachteten alle beide sie mit gleicher, hellwacher Neugier, kalt, eindringlich, aber distanziert: der Blick eines Jagdfalken. Dennoch, wenn dieses Yod nur ein Zehntel so intelligent war, wie Avram voreilig behauptete, versprach ihre Arbeit für eine Weile interessant zu sein. Das würde ihr die Zeit vertreiben, sie beschäftigen. Wenn sie sich ein wenig hineingefuchst hatte, konnte sie sich nach richtiger Arbeit umsehen, bei einem neuen Multi. Sie musste immerhin zwei Jahre überstehen; zwei Jahre, um sich wieder in Stellung zu bringen für den Kampf um Ari, sobald er zur Erde zurückkehrte.

      9

Shira

      Das Familienalbum wird umgeschrieben

      Shira war angenehm überrascht, dass Malkah sie nahezu ohne jeden Vorwurf willkommen hieß. Sie hatte vergessen, wie viele Freundinnen Malkah hatte, andere Frauen, die mit kleinen Geschenken vorbeikamen, mit Geschichten, mit Problemen, mit Klatsch. Sie hatte sich ihre Großmutter als alleinlebend vorgestellt, aber sie war selten allein, außer sie wünschte es – und sie schätzte das Alleinsein. Malkah beteiligte sich auch an unterschiedlichsten Diskussionsforen und Spielen im Netz. Shira sah Malkah oft im gefilterten Sonnenlicht des Hofes sitzen oder unter dem Pfirsichbaum in ihrem Lieblingssessel, mit geschlossenen oder halb geschlossenen Augen, und sie dachte dann, dass die alte Frau döste, bis sie merkte, dass Malkah ins Netz eingestöpselt war und umherstreifte oder in der Basis arbeitete und die ausgetüftelten Schimären konstruierte, die einer der Exportartikel von Tikva waren, gekauft von Multi- und Stadtbasen als Schutz.

      »Ich flirte mit allen möglichen Leuten«, sagte Malkah. »Keiner kann mich sehen, es sei denn, ich will es.«

      »Du verrätst ihnen also nicht dein Alter?«

      »Einem sage ich dies, anderen das. Die meisten fragen nicht. Das ist ein Kongress der Köpfe, nicht der Körper.«

      »Also hast du geistige Liebhaber?«

      »Liebhaberinnen auch. Hast du nie dein Geschlecht gewechselt, Shira, nicht mal für einen Abend? Ich habe eine Freundin in Foxdale, der ich den Hof mache und die mich für einen Mann von zweiundvierzig hält. Sie würde mich umbringen, wenn sie mir begegnete, von Feindin zu Feindin, aber in den Freiräumen des Netzes spielen wir miteinander.«

      »Mit Ari habe ich ununterbrochen gespielt. Ich war wieder Kind.« Shira legte die Arme vor ihre Brüste. »Eine Mutter ohne ihr Kind ist ein Karren, der versucht, auf drei Rädern zu rollen«, sagte sie zu Malkah, die in ihrem tiefen Lieblingssessel saß und Shira mit zufriedenem Gesichtsausdruck betrachtete.

      »Ein Dreiradkarren ist ein Schubkarren und er funktioniert einwandfrei. Du wirst deinen Sohn zurückbekommen. Am Ende werden wir sie schlagen. In der Zwischenzeit hast du die kostbare Familienfruchtbarkeit. Krieg noch eins.«

      »Ich will nicht noch eins.« Sie hatte gestern Abend erneut versucht, ihn übers Netz zu erreichen, aber wieder einmal war der Ruf nicht angenommen worden. »Ich will Ari.«

      »Hast du je erwogen, mit deinem Dybbuk ein Kind zu haben?« Shira wusste sofort, dass Malkah Gadi meinte. »Ach, ist Gadi tot, dass sein Geist in mich fährt?«

      »Er ist tot auf die gleiche Art wie du, meine Shira. Er kann sich auf keine Frau einlassen, und du kannst keinen anderen Mann wirklich lieben.«

      Shira zuckte zusammen. Bittere Widerworte füllten ihren Mund, dann schluckte sie sie hinunter. »Vielleicht ist das schlimmste Schicksal für eine Frau, den Mann, den sie will, zu früh zu kriegen. Wir konnten nicht zusammenbleiben – wir waren Kinder. Aber ich kann niemand anders gehören, nicht so, wie ich mit ihm zusammen war.«

      »Ich wollte nie jemandem gehören. Ich wollte sie mir nur eine Weile ausleihen, für das Vergnügen, die Zärtlichkeit, ein bisschen Lachen.«

      »Wie viele Liebhaber hattest du?«

      Malkah blickte versonnen. Sie schwieg einen Augenblick. »Ich weiß nicht. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gezählt. Ich erinnere mich, als ich wesentlich jünger war, bin ich in schlaflosen Nächten davon eingenickt, dass ich sie gezählt habe. Und ich bin nie bis zu Ende durchgekommen, weil ich immer überlegt habe, ob der eine, an den ich mich kaum erinnern konnte, nun wirklich mein Liebhaber war oder nicht. Ich bestand darauf, chronologisch vorzugehen, also musste ich, wenn ich merkte, ich hatte einen ausgelassen, ganz von vorn anfangen. Es hat immer funktioniert und mich zum Einschlafen gebracht.«

      Sie betrachtete erstaunt ihre Großmutter, versuchte, in der untersetzten Frau mit den Zöpfen um den Kopf, aus denen am Nacken und über den Ohren ein paar Haare ausbrachen, eine Femme fatale zu erkennen, die ihre Liebhaber nicht zählen konnte. »Malkah, ich hatte nur fünf. Insgesamt.«

      Malkah lachte, dann hielt sie sich verlegen die Hand vor den Mund. »Ich muss sagen, ich hatte fünf, bevor ich zwanzig war. Ich war immer neugierig auf den Geschmack eines neuen Mannes, wie er sein würde. Ich wollte in ihn hineinbeißen.«

      Sie war überrascht und ein wenig schockiert, dass ihre Großmutter so offen mit ihr redete. Vielleicht sah Malkah jetzt, da sie verheiratet gewesen war und ein Kind bekommen hatte, in ihr eher eine Gleichrangige. »Also wie viele gab es?«, drängte sie. »Zwanzig? Dreißig? Zweihundert?«

      »Um die fünfzig, würde ich schätzen. Ich müsste sie mal zusammenzählen. Ich leide immer noch an Schlaflosigkeit, aber jetzt erzähle ich mir Geschichten, statt Männer zu zählen.«

      »Aber so viele … Warst du hinter ihnen her? Bist du auf sie zugegangen und hast ihnen einen Antrag gemacht?«

      Malkah lachte. »Ich war nie eine Schönheit. Du bist viel hübscher, als ich je war. Aber ich hatte einen guten Körper und riskierte gern ein Auge. Sie kamen immer auf mich zu, wenn ich das wollte … Avram war ein ganz schöner Rumtreiber, bevor er sich in Sara verliebt hat, weißt du. Bevor er mit ihr nach Kalifornien ging.«

      »Avram? Das glaube ich nicht.« Nein, sie konnte es nicht glauben. Kalt, getrieben.

      »Er war einfach von blendender Schönheit als junger Mann. Ich muss sagen, wenn ich Gadi anschaue, dann sehe ich Avram, wie er einmal war.«

      »Du hattest nie was mit Avram, sag mir, dass du nichts hattest.«

      »Ich kann dir sagen, dass ich nichts mit ihm hatte. Hatte ich aber. Einen Sommer lang trafen wir uns immer im Weinberg und breiteten zwischen den Rebstöcken versteckt eine Decke aus. Als er Sara begegnete, verliebte er sich heftig in sie. Ich glaube nicht, dass er je eine andere Frau angeschaut hat.«

      Er hat mich angeschaut, dachte Shira mit etwas Widerwillen. Er schaut immer meinen Körper an.

      »Als die Dinge aufgrund ihrer Krankheit zwischen ihnen verdorrten, starb, glaube ich, der Sex in ihm. Einige Menschen haben weiter Verlangen danach, solange sie leben, aber andere Menschen, sie lassen ihn los, als wäre es ein Kleidungsstück, das verschlissen ist. Ich finde, das sind Narren.« Malkah nickte zum Nachdruck heftig. »Ich bin voller Freude, dass du bei mir zu Hause bist, Shira. Das verleitet mich dazu, Unsinn