zu wollen. Er setzt dazu an, eine Entwicklung zu historisieren, die noch unabgeschlossen ist. In ontologischer Hinsicht ließe sich erwidern, dass alle Geschichte als Erkenntnisgegenstand wesentlich unabschließbar ist. »Prozesse kommen in Wirklichkeit überhaupt nicht zu Abschlüssen«, heißt es in einer Notiz von Brecht. »Es ist die Beobachtung, die Abschlüsse benötigt und legt.«5 Kein Schluss auf diesem Gebiet ist ein für alle mal. So unentbehrlich die in der historischen Bibliothek angehäuften Wissensmassen und Deutungsansätze sind, so trügerisch ist die Vorstellung, gewesene Geschichte ließe sich besitzen und einschließen wie ein Museumsstück. Reliquien des Geschichtsprozesses mögen gesichert sein, ihr Sinn ist es nicht. Das macht, dass Geschichte Seinsmodus eines Seienden ist, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (Heidegger, SuZ, 12), und dass, »wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben« (K I, 23/393, Fn. 89). Mehr noch: indem ›wir‹ unsere Geschichte ›gemacht‹ haben, hat unsere Geschichte uns zu dem gemacht, was wir sind, ohne am Ziel zu sein. Das macht den von Ernst Bloch immer wieder abgewandelten Einsatz des Philosophierens aus: »Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst.« Dieses unabschließbare Werden im Widerspruch lässt auch die vergangene Geschichte nicht in Ruhe. Was Geschichte heißt, ist eine zusammenfassend deutende Auswahl von Fakten. Nur ein infinitesimaler Teil des Geschehenen findet Eingang. Nicht nur die von der Forschung festgestellte Faktenlage, sondern auch die forschungsleitenden Deutungsmuster geben den Ausschlag. Dies liegt beschlossen in der radikalen Geschichtsimmanenz, die Antonio Gramsci »absoluten Historizismus« nennt (Gef 7, 1781). Wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Die Wissenschaft kann Fakten in den Grenzen des Informationszugangs und des Forschungsstandes objektiv feststellen oder, wie Marx sagt, »naturwissenschaftlich treu konstatieren« (13/9). Doch was sie bedeuten, kann nicht anders als tastend und im Meinungsstreit herausgehoben werden, weil ihr Sinn in der geschichtlichen Praxis und der durch sie angestoßenen Veränderungsprozesse ankert. In diesen Prozess einzugreifen, macht den Geschichtsschreiber zum Akteur, der mithandelt und damit ›ins Objekt fällt‹. Wir sind mit von der Partie. Daher dreht das Geschichtsverständnis sich untergründig stets um den »geschichtlichen Springpunkt«6 der jeweiligen Gegenwart, auch wenn es sich im Bewusstsein zumeist anders darstellt. Der Glaube, Vergangenes historisch zu artikulieren, heiße zu erkennen, »wie es denn eigentlich gewesen ist«, bezeichnet folglich für Walter Benjamin »im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird« (GS I.2, 695).
5 Brecht fährt fort: »Im Großen werden natürlich Entscheidungen getroffen (und angetroffen), gewisse Bildungen ändern oder verlieren gar ihre Funktionen, ruckweise zerfallen Qualitäten, ändert sich das Gesamtbild.« (GA 22.1, 458)
6 Marx über Ricardo: »So sehr ihm der geschichtliche Sinn für die Vergangenheit fehlt, so sehr lebt er in dem geschichtlichen Springpunkt seiner Zeit.« (26.3/46)
Wenn es darum geht, »die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist« (II.2, 468), so stellt sich diese Aufgabe im Bezug auf Gegenwartsgeschichte noch einmal anders. Hier heißt es, die Erfahrung der Gegenwart mit sich selbst als geschichtliche ins Werk zu setzen. Das bloße Jetzt aber ist leer und gibt den geschichtlichen Springpunkt nicht her. Ihn aus einem Projekt, gleichsam als Wechsel auf eine angestrebte Zukunft zu ziehen, landet bei haltloser Spekulation. Handfest gibt der geschichtliche Springpunkt sich nur in negativer Form, indem wir »die Geschichte nicht anders denn als eine Gefahrenkonstellation betrachten« können, die wir, »denkend ihrer Entwicklung folgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprunge« sind (V.2, 587). Zweifellos werden wir dabei immer wieder über unsere Hoffnung stolpern, wo Gefahr wächst, wüchse das Rettende auch. Dass Hoffnung und Wunsch sich zum Vater des Gedankens machen, können wir nicht vermeiden. Wohl aber erhalten sie nie das letzte Wort. Schon der nächste Moment kann sie widerlegen.
Was soll uns dann ein Buch und der Versuch, einen theoretisch fundierten Zusammenhang in die Zerfahrenheit der Erscheinungen und Meinungen zu bringen? Ist nicht durch die Buchform und die durch den Druck erreichte Existenzdauer unser Text mit einem Anspruch auf »›Wahrheit‹ und ›Sein‹ assoziiert«, der einer »seit zwei Jahrhunderten obsolet gewordenen« Illusion aufsitzt? Das gibt Michael Jäger zu bedenken (2009, 246).7 Gilt nicht Wahrheit »jetzt als werdende Wahrheit«, so dass ich »auch nur meinem werdenden Gedanken Dauerhaftigkeit wünschen« kann? (Ebd.) Ja, so ist es. Aber daran ist nichts paradox. Es unterscheidet Bücher und Theorien, seit es sie gibt, ob das werdende Denken für sie vor dem gewordenen rangiert oder ob sie es in ihm verschwinden lassen. Worauf es ankommt, ist, wie wir früher sagten, »nicht so sehr das Fertige als die Verfertigung. Mehr als die alte Wahrheit zählt die neue Bewährung. Und das Wesen ist für uns nicht vor allem, was gewesen ist, sondern wesentlicher ist uns das Werden, sowohl der Erkenntnis wie, auf andere Weise, der Sache selbst« (KV I, 12). Die Buchform »fesselt« nicht den Gedanken, wie Jäger meint (247), sondern fordert ihn zur Anstrengung des Begriffs heraus. Und wenn die werdende Wahrheit, die in unserem Sinn die dialektische heißen kann, durchs wirkliche Werden überholt wird wie ein Erwarten durchs Eintreten des Unerwarteten, dann werden wir dies nicht durch nachträgliches Umschreiben ausradieren. Die Darstellung mag in dem Maße philosophisch genannt werden, in dem sie Einsicht ins Sein des Werdens gewährt. Das meinen wir, wenn wir von Historisierung der Gegenwart sprechen.
7 Angesichts der endlosen Flucht solcher Momente scheint ihm ein Medium wie die »Bloggosphäre« als Textquelle vieler Subjekte statt des einen Autors angemessener.
4. Arbeiten an künftiger Erinnerung im Material der Zeit
It may be more productive, then, to combine all the descriptions and to take an inventory of their ambiguities – something that means talking as much about fantasies and anxieties as about the thing itself.
Fredric Jameson (2000)
In diesem Buch werden wir uns das politisch-ökonomische Drama der Gegenwart und ihre Zukunftserwartungen als unvollendete Vergangenheit, in der Form künftiger Erinnerung erzählen, um sie als geschichtliche zu verstehen. Während zur Fiktion des Objektivismus die Zeitlosigkeit gehört, entfaltet sich unsere Erkundung in eben der Zeit, in welcher der historische Prozess weitergeht, den vorigen Moment korrigiert und der Wahrnehmung ständig neue Rätsel aufgibt. Unsere Dokumente sind aus dem Geschehen auftauchende Sichtweisen, und die Fakten, die wir anführen, zählen immer auch als von bestimmtem Standpunkt aus gesehene. Die kritischen Zeugen, die wir als Personen dadurch deutlicher hervortreten lassen, dass wir ihnen in den verschiedenen Etappen unserer Geschichte das Wort geben, sollen die Möglichkeit stiften, an ihnen das Kontinuum aufzubrechen. Ihre Namen sind immer dieselben, nicht aber die Namen, die sie den Verhältnissen und den in ihnen Agierenden geben. Wenn »Qualitäten ruckweise zerfallen« und das Gesamtbild sich ändert, ändern sich die Sichtweisen. Im Moment der bruchartigen Umschwünge erfasst diese Wechselhaftigkeit im Bewusstsein der Zeitgenossen die Geschichte selbst. Als 1989 der sowjetische Demokratisierungsversuch unter Gorbatschow in die Krise kam, konnte man die Erfahrung machen, »dass sich heute in der Sowjetunion nichts so schnell bewegt wie die Vergangenheit« (PJ, 15). In solchen Sichtänderungen lässt sich die Erfahrung der Beteiligten erfahren und zugleich auf jene Distanz bringen, die wir historisch nennen. Meinungen scheinen in ihrer Wetterwendigkeit auf eine Weise historisch wie historische Kurse an der Börse. Im Extrem mag man sie für Windfahnen halten. Aber als solche zeigen sie die Windrichtung an. In ihrer Subjektivität spiegeln sie etwas Objektives. Dessen unmittelbar habhaft werden und Geschichte subjekt- und damit zeitlos schreiben zu wollen, ist illusionär. Je ferner der historische Gegenstand liegt, desto sicherer kann sich der Historiker in diesem illusorischen Glauben wiegen. Der Autor gegenwartsgeschichtlicher Betrachtungen kann es nicht. Für ihn gibt es keinen Standpunkt »über dem Getümmel«, wie