Reinhold Ruthe

Wege aus der Burnout-Spirale


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wäre zudem überflüssig, die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu überschreiten. Aber ungezählte Patienten beweisen es: Sie wollen sich selbst und andere überholen und büßen es dann mit psychosomatischen Beschwerden.

       Sie erleben Leistung und Erfolg als äußerstes Glücksgefühl und als ein unübertroffenes Lustempfinden.

       Sie schwelgen darin.

       Sie wollen es verlängern.

       Sie wollen es steigern.

       Sie genießen es und zahlen dafür einen hohen Preis.

      Es gibt Lebensgrundüberzeugungen, die menschlich und geistlich falsch sind, die wir uns aber zu Eigen gemacht haben. Sie dominieren Herz und Hirn und haben unser Planen und Handeln programmiert.

      Der amerikanische Psychiater Chris Thurman, der eine der größten psychiatrischen Kliniken der Welt leitet, hat über 30 solcher „Lügen, die wir glauben“ zusammengetragen. In allen Lebensbereichen fand er Lügen, die wir Christen für wahr halten und die wir handfest praktizieren. Unter den Rubriken: Selbstlügen, weltliche Lügen, Ehelügen und religiöse Lügen beschreibt er eine, die mit Leistung und Erfolg zusammenhängt. Im Sinne einer weithin akzeptierten Überzeugung lautet die Lüge: „Du bist nur so viel wert wie deine Leistung!“

      Thurman kommentiert diesen Selbstbetrug folgendermaßen: „Viele dieser gehetzten Leute kommen bis an die Schwelle des Selbstmordes, wenn sie durch ihre Neigung, Wert und Leistung gleichzusetzen, Gefühlen des Versagens und des Selbsthasses ausgesetzt werden … Unsere Leistungen im Leben sagen durchaus etwas über uns aus. Doch sie sind niemals eine vollständige Antwort auf die Frage, wer wir sind … Doch in unserer Gesellschaft lautet die Botschaft nur zu oft:, Du bist nur dann ein wertvoller Mensch, wenn du die Erfolgsleiter hinaufsteigst, in einem großen Haus, in einem Vorort wohnst, ein teures Auto fährst, eine goldfarbene Kreditkarte besitzt, nur Designeranzüge trägst …‘. Diese Lüge ist hart zu knacken.“2

      Lügen sind Lebensgrundüberzeugungen und Erwartungen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Aus seiner Prägung durch seine Eltern, Großeltern und Geschwister resultiert, dass sich der Mensch Überzeugungen zurechtlegt, mit denen er völlig übereinstimmt. Sie bestimmen sein Denken, Fühlen und Handeln. Er handelt so, als ob er nicht anders könne, und lebt so, als seien diese Einstellungen unverrückbare Wahrheiten. Es leuchtet ein, dass sie ihm in Fleisch und Blut einprogrammiert sind. Sie haben ein zähes Leben. Der therapeutische Seelsorger erfährt, dass sie schwer zu knacken sind. Es ist kein Wunder, dass unsere hoch gelobte Leistungsgesellschaft, die Leistung und Erfolg wie Götter verehrt, auch Christen in ihrer Einstellung verunsichert und sie zu Gläubigen solcher Lebenslügen erzieht.

      Das Erfolgsstreben hat viele Gesichter. Erfolgreiche können auf unterschiedlichsten Gebieten ihr Ziel erreichen. Erfolge können durch Kraft, Macht, Geschicklichkeit, Intelligenz, Schnelligkeit, Risikobereitschaft usw. erzielt werden. Jeder sieht seine Erfolgschancen und probiert sein eigenes Erfolgsschema aus. Schauen wir uns verschiedene Eigenschaften beispielhaft an, die bei erfolgreichen Menschen besonders hervorstechen:

       Intelligenz in der Wissenschaft

       Machtstreben in der Politik

       Höchstleistungen im Sport

       Kriminelle Energien im Verbrechen

       Risikobereitschaft im Rennsport

       Aggressivität im Kampfsport

       Musikalität in der Unterhaltungsbranche

       Todesmut im Krieg.

      Der Erfolg, auf welchem Gebiet auch immer,

       beweist Überlegenheit,

       verschafft Anerkennung und

       zeichnet den Menschen vor anderen aus,

       schafft ein Stück Sinnerfüllung,

       verhilft zur Befriedigung – wenn auch nur vorübergehend.

      Der Mensch, der sich beweisen will, braucht einen Leistungsbeweis und strebt den Erfolg an, um vor sich und anderen bestehen zu können. Die Herausforderungen können moralischer, geistiger und krimineller Art sein. Menschen, die etwas gelten wollen und ihre Streicheleinheiten brauchen, erfinden die unwahrscheinlichsten Attraktionen, durch die sie die Befriedigung ihrer Bedürfnisse erreichen.

      In den letzten Jahren kamen immer mehr Sportarten in Mode, die einen unvorstellbaren Nervenkitzel befriedigen. Dieser Extremsport beinhaltet eine Sucht nach starken Reizen. Vor allem junge Menschen suchen ein Risiko, das Todesmut erfordert und den Rausch der Gefahr einschließt.

      Bungeespringer lassen sich angebunden an Gummiseilen kopfüber in die Tiefe fallen. Ihr Fall wird nur kurz vor dem Aufprall aufgefangen. Eine Reihe dieser jungen Menschen spiegelt ein selbstzerstörerisches und zielloses Risikoverhalten wider – sie spielen mit dem Tod. In Frankreich wurde dieser „Sport“ inzwischen verboten, nachdem einige junge Menschen dabei umgekommen sind.

      Haben sie den Tod einkalkuliert? Was geht in den Hirnen und Herzen vor? Fliehen sie aus der Welt, die ihnen sinnlos und kaputt erscheint? Wollen sie der Routine und der Langeweile entfliehen? Ist diese Welt so lebensunwert geworden, dass nur noch selbstmordähnliche Spiele die Suche nach Abenteuer und Stimulation befriedigen können? Oder sind die meisten so bestätigungssüchtig und anerkennungshungrig, dass sie Kopf und Kragen riskieren, um erfolgreich zu sein?

      Auch Motorrad- und Autorennfahrer sind so ruhmsüchtig, dass sie bei jedem Rennen den Tod einkalkulieren. Und wenn sie es nicht tun, verdrängen sie leichtfertig die Angst, dass sie das Leben verlieren könnten. Die Geld-, Anerkennungs- und Machtfrage sitzt ihnen so tief in Herz und Hirn, dass sie alles aufs Spiel setzen. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip macht auch an dieser Stelle deutlich, wie zerstörerisch und lebensfeindlich dieses Denken ist.

      Ist der Nervenkitzel, der Kick oder Thrill, wie Journalisten heute diese Abenteuersuche nennen, das Entscheidende? Oder sind Thrillseeker (Nervenkitzelsucher) Menschen, die den Sinn des Lebens verloren haben? Die alles auf eine Karte setzen, um aus dem langweiligen und trostlosen Leben ein bombastisches Abenteuer zu machen? Nur die verrücktesten Nervenkitzel können noch Abwechslung und Schwung in den Alltag bringen. Das heißt doch, wer lebensbedrohliche Abenteuer sucht, hält normales Leben für unnatürlich und langweilig. Wer ständig den Kick braucht, um alle Gefühls- und Empfindungsgrenzen zu sprengen, lebt in Extremen. Langeweile fördert den Lebensüberdruss – „Langeweile tötet“, wie das Sprichwort formuliert. Das Verrückte bekommt Sinn, Durchschnittliches und Bürgerliches sind verabscheuungswürdig.

      Energie und Kraft für die Gemeinschaft und für andere einzusetzen ist nutzlos. Egoismus und Ichsucht feiern Triumphe. Thrillseeking ist eine perverse Form der Ichsucht.

       Lust am Risiko,

       Lust an der Gefahr,

       Lust am Untergang,

       Lust am Spiel mit dem Tod

      sind ekstatische Einstellungen, die alles Eingefahrene, Gleichmäßige und sich Wiederholende scharf in Frage stellen.

      Es zählt nur noch das Extreme, Verrückte und Übersteigerte; das Stinknormale hat allen Reiz eingebüßt. Die viel beschriebene „Erlebnisgesellschaft“ braucht den Erregungskick.

      Es stimmt, absurde Leistungen sind auch Leistungen, und verrückte Erfolge sind auch Erfolge. Nicht nur das Sinnvolle ergibt Sinn, auch das so genannte Sinnlose erfüllt den Thrillseeker mit Sinn.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg ist unsere Gesellschaft immer wieder einem Wertewandel unterworfen gewesen. Das Wirtschaftswunder und der sich darauf einstellende Wohlstand haben den ersten Wertewandel veranlasst.