Hans Ulrich GUMBRECHT

Digital_Pausen


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kleinen Moment aber noch hielt ich dagegen: Nichts liege mir ferner, bei meiner Phobie gegen alle elektronischen Kommunikationsformen und bei dem würdig-langsamen Rhythmus meiner Professoren Arbeit, als ein wöchentlicher Online-Blog, »vielen Dank natürlich, aber keinesfalls«. Dann kam, statt Gegenargumenten, ein finanzielles Angebot, das selbst mit einigen Revisionen nach unten während der folgenden Tage zu gut blieb, als dass ich mir ein »Nein« leisten wollte. Mit den technischen Anforderungen würde ich schon zurechtkommen, sagte der Herausgeber, da gebe es viele kompetente Mitarbeiter in Frankfurt, und, ja, die Leser-Antwortfunktion könnte, ausnahmsweise in dieser Gattung, für mich abgestellt werden, wenn ich denn so sehr um mein Zeit-Budget besorgt sei: »Wichtig ist nur, dass du einmal in der Woche schreibst, egal wie kurz oder lang, egal worüber.«

      Zweihundert Wochen und 190 Blog-Einträge später (wir haben seit Oktober 2014 einvernehmlich auf einen 2-Wochen-Rhythmus umgestellt), fast sieben Monate nach dem jähen Tod von Frank Schirrmacher, der sich dann nur noch wenige Male, jeweils unverhofft, gemeldet hatte zu der entstehenden Blog-Reihe, immer mit irgendeinem Wort, das mir wieder diese unangemessene Gewissheit von der eigenen Bedeutung gab, dreieinhalb Jahre nach jenem Kölner Gespräch am Telefon, bin ich dem jetzt in meinem Leben fehlenden Freund dankbar für die Schreibaufgabe des Blogs, die er in meine Zeit und meine Arbeit rammte – ohne dass ich leicht und genau sagen könnte, was mir neben der zugesagten monatlichen Überweisung diese Texte eigentlich eingebracht haben. Auf geschätzte achthundert Manuskriptseiten haben sie sich angehäuft, also auf den Umfang eines quantitativ respektablen Buchs, das ich nun nicht geschrieben habe und das mir (eher als den potentiellen Lesern) fehlt. Einen Rhythmus habe ich gefunden, ziemlich unabhängig von den anderen Arbeiten, die ich zu erledigen habe: Bis Sonntagabend fällt die Entscheidung für ein Thema; bis Montagabend notiere ich, was mir zu diesem Thema einfällt und vor allem wichtig ist; ich schreibe dann, oft in kurzen Fragmenten und sehr früh am Morgen, zwischen Dienstag und Donnerstag, einen Text von zwischen vier und fünf Seiten; und richte am Freitag das Erscheinen des Blogs in der Online-Ausgabe der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein, für Samstagmorgen um 10.30 Uhr. Entscheidend verändert hat sich mein Schreiben dabei wohl nicht, anders gesagt: Ich habe sicher keine Blog-Variante für einen ohnehin wenig differenzierten Stil erfunden, wahrscheinlich war ich dafür auch schon zu alt, als ich mit beinahe dreiundsechzig Jahren das Bloggen anfing.

      Doch manchmal glaube ich, dass mir die Übung geholfen hat, mittlerweile jedes halbwegs zugängliche Thema (nicht nur schriftlich) knapp und vergleichsweise transparent vorstellen zu können – so als stünden mir in allen Situationen vier bis fünf Seiten zur Verfügung. Weiterentwickelt hat sich mit dem Blog wohl auch eine spezifische Fähigkeit, auf die ich schon früh stolz war: nämlich die, auch unter ungünstigsten Umständen volle Konzentration finden und schreiben zu können. Der erste Text in dieser Sammlung ist entstanden während eines Flugs von San Francisco nach Mexiko-Stadt, auf einem wirklich engen Mittelplatz in der Economy-Klasse und hinter einem Passagier, der sich nicht entscheiden konnte, ob er schlafen (liegen) oder wach sein (sitzen) wollte; der letzte Text beschreibt das Morgenlicht in Santiago de Chile beim Warten auf das Taxi zum Flughafen, und der vorletzte geht auf Notizen zurück, die ich unmittelbar nach dem Abpfiff eines Bundesligaspiels noch im (Dortmunder) Stadion gemacht habe.

      So etwas wie eine »Gattung«, wenigstens eine »private Gattung«, ist aus all diesen Regelmäßigkeiten und gelegentlichen Exzentrizitäten aber nicht geworden, was mir wohl über eine Art athletische Flexibilität die kleine Freude am Bloggen erhalten hat, selbst und gerade unter ungünstigsten Verhältnissen – Schlimmst- und Bestfall: Schreiben im Hotelzimmer auf der Hawaii-Insel Maui, mit der Familie unter dem Regenbogen am Strand. Schreiben im voraus ist jedenfalls ganz unmöglich, weil mit dem Eindruck verbunden, aus dem Rhythmus zu fallen und damit einen spezifischen Kontakt mit den Lesern zu verlieren, der eigenartig prekär und gerade deshalb ausschlaggebend ist – nur so kommt es zu Kakophonien der Stimmung wie der von Maui. Neben meinen Freunden Miguel (in Lissabon und manchmal Chicago), Jan (meistens in Köln) und Klaus (in Basel oder München), die meine Blog-Beiträge regelmäßig bekommen, noch bevor sie im Web erscheinen, schnell lesen und so genau kommentieren, dass ihre Reaktionen für mich längst mit den eigenen Texten zusammengewachsen sind, weiß ich von »der Publikumsreaktion« – bei ausgeblendeter direkter Antwortmöglichkeit – ausschließlich über die Klick-Zahlen, die sich beliebig oft und im Hinblick auf alle geposteten Texte abrufen lassen. (Übrigens ist mir die Niedlichkeit des Worts »Klick« im Vergleich zur beinahe brutalen Nüchternheit des amerikanischen Worts »Hit« immer etwas peinlich.) Individuelle Fragen, Proteste, Informationen und Freundlichkeiten erreichen mich zwar auch ab und an über E-Mail, aber sie gehören nicht in den Einzugsbereich einer besonderen, schnell zur Obsession gewordenen Faszination, den die Klick- und Leser-Statistik hat.

      Denn diese Zahlen ohne individuelles Profil sind auch nach gut dreieinhalb Jahren in ihrer Disparität nur schwer zu interpretieren, daher auch kaum prognostizierbar und also von deutlich begrenztem Orientierungswert (der Eindruck wird von den Blogerfahrenen Mitarbeitern der FAZ bestätigt) – obwohl ich ihnen hartnäckig solche Orientierung abzugewinnen versuche. Der Text mit den meisten Klicks (er erscheint gedruckt in diesem Buch) ist zum Beispiel inzwischen um die fünfzigtausend Mal elektronisch geöffnet worden (wieviel Leser er wirklich gefunden hat, werde ich selbstredend nie wissen), während der quantitativ am wenigsten erfolgreiche Text (auch er ist hier zu finden) kaum mehr als tausend Mal besucht wurde (was gegen die angenehme Vermutung spricht, dass ich je einen »Leserstamm« gefunden hätte); meine Bemühungen, an jeweils in Deutschland laufende politische oder kulturelle Diskussionen anzuschließen, produzieren eher enttäuschende statistische Mittelwerte, und das gilt auch für vermeintlich aktuelle Themen aus dem Sport (was mit meiner chronisch verspäteten kalifornischen Perspektive zu tun haben mag). Themen zum literarischen und ästhetischen Kanon finden mehr Leser, aber regelmäßig weniger als vergleichsweise komplizierte philosophische Probleme (mit Höchstwerten für Einträge, in denen die Namen Nietzsche und Heidegger erscheinen). An jedem Wochenende aber kann sich dieses sehr langsam eine Form entwickelnde Profil der Leserinteressen etwa aufgrund der deutschen Wetterlage (im ganz unmetaphorischen Sinn) verschieben und entdifferenzieren. Konstant ist allein die permanente Überraschung – gerahmt von der Gewissheit, dass einer wie ich mit keiner anderen Publikationsform ähnlich viele Leser erreichen kann. Für mich selbst ist die Unvorhersehbarkeit der Statistiken zu einer zentralen Schreibmotivation geworden. Dabei dominiert längst nicht mehr der Ehrgeiz, möglichst viele Leser zu finden, sondern die regelmäßig erneut aufkommende Frage nach der momentanen Resonanz spezifischer Themen.

      Vielleicht erklärt diese positive Irritation der Leserresonanz auch, warum der Blog selbst nach fast zweihundert Versuchen nicht das geworden ist, worauf ich heimlich gehofft hatte – weil ich darum viele Kollegen schon seit meiner Studentenzeit beneide: nämlich ein hochindividuelles intellektuelles Tage- oder Notizbuch, in dem sich nie versiegende Ideen und brillante Intuitionen (Intuitionen rangieren stets am höchsten in der Ästhetik des intellektuellen Daseins) zu einem Schatz fürs Leben anhäufen. Statt dessen lebe ich weiter von der schreibenden Hand in den Mund der Wörter- und Gedankenproduktion, wenn man so sagen kann, und der Blog hat natürlich in dieser Hinsicht eine lebenslang existierende Hektik nur verschärft. Mit der Hektik aber ist – paradoxalerweise – für mich der Hauptgewinn des Blogs verbunden, auf den inzwischen sein Titel »Digital_Pausen« anspielt (obwohl er – auch unter Zeitdruck – erfunden wurde, noch bevor der erste Text der Serie entstanden war und ich also mit Blog-Wirkungen vertraut sein konnte). Ich schreibe viel (im Vergleich zu anderen Akademikern jedenfalls), aber ich schreibe nicht schnell – und nur selten schreibe ich »leicht«. (wobei ein erstes Gefühl, »leicht« zu schreiben, fast immer Ergebnisse zeitigt, mit denen ich dann nicht zufrieden bin). Für die erste Version eines Blog-Eintrags von fünf Manuskriptseiten brauche ich um die fünf Stunden, dazu kommen im Durchschnitt zwei bis drei Stunden an Vorbereitung (Nachlesen von mir schon bekannten Texten, handgeschriebene Anmerkungen auf weißen Karteikarten) und dieselbe Zeit zur definitiven Textüberarbeitung.

      Die Blog-Aufgabe verpflichtet mich also pro Folge zu etwa zehn Stunden Konzentration auf Themen, die sich nur selten mit meinen laufenden Seminaren oder langfristigen Schreibprojekten überschneiden (obwohl ich mir gerade das aus Ökonomiegründen immer wieder vornehme). So werden die Blog-Einträge innerhalb der Hektik des digitalen Alltags – und erzwungen durch sie – oft zu kompakten Inseln intellektueller