Petra Wagner

Der mondhelle Pfad


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unserem Heiligtum.“

      „Das ist oben auf dem höchsten Punkt vom Uhsineberga, stimmt’s?“

      „Nicht das Heiligtum. Wir gehen zum Kalendarium.“

      „Verstehe“, sagte Loranthus, doch seine Miene strafte ihn Lügen. „Und wieso verneigen wir uns nach Osten?“

      „Und das fragt einer, der sich mit dem Morgenland auskennt“, gluckste Silvanus und tat so, als ob er ihn besonders argwöhnisch musterte. Da Loranthus aber immer noch wie ein Schaf guckte, sagte er ganz langsam: „Weil bald im Osten die Sonne aufgeht. Wir begrüßen die Sonne nach ihrer Sommerwende.“

      „Aha! Geht ihr zur Wintersonnenwende auch zum Kalendarium und verneigt euch nach Osten, wenn die Sonne aufgeht? Ist es dann nicht viel zu kalt?!“

      „Zugig und rutschig hast du vergessen. Im Winter schneit es immer ordentlich“, fügte Silvanus noch hinzu und sah, wie Loranthus prompt eine Gänsehaut bekam. Vergnügt rieb er sich die Hände. „Du machst dir ja keinen Begriff, Loranthus! Das wird sogar klirrend kalt und der Atem gefriert einem im Mund und die Zähne klappern wie irre. Wenn man nicht aufpasst, bricht man sich einen ab. Deshalb sollte man durch die Nase atmen. Wenn man Glück hat, bekommt man keinen Schnupfen, sonst gefriert der Rotz und die Nase ist dicht. Dann muss man wieder den Mund aufmachen … Ja, das ist wirklich alles gar nicht so einfach … Was soll der neu geborene Sonnenkönig von uns denken, wenn wir dastehen mit abgebrochenen Zähnen und ellenlangen Eiszapfen an der Nase … Deshalb bleibt man lieber zu Hause und verbringt die Nacht im Stillen. Wenn der alte König stirbt, ist alles still, wie es sich gebührt. Alle warten.“

      „Was? König Gort stirbt?“

      „Nein. Niemand stirbt wirklich, Loranthus. Ich meinte den Sonnenkönig als Symbol für die Wintersonnenwende. Denk an den Tanz von Elektra und Viviane. Sie haben doch auch nur die Mondgöttin symbolisiert.“

      „Und König Gort hat mit Pfeil und Bogen den Sonnengott verkörpert.“

      „Ja, genau. Die Wintersonnenwende ist die geweihte Nacht, wenn die Sonne ihren Jahreslauf beendet und einen neuen Umlauf beginnt. Symbolisch stirbt der alte König und der neue wird geboren. Alles beginnt von vorne, ein ewiger Kreislauf.“

      „Puh, und ich dachte schon …“

      Silvanus klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

      „Nicht denken, Loranthus! Beobachten, erkennen, wissen.“ Er lachte auf. „Fragen geht natürlich schneller.“

      „Deshalb bin ich hier“, seufzte Loranthus und reckte den Kopf, damit er den goldenen Hut von Afal besser im Blick hatte. Der oberste Druide schwenkte gut sichtbar von der Wiese ab auf einen breiten Weg. Alle folgten ihm wie die Schafe zu einer anderen Weide. Loranthus musste sich das Lachen verkneifen und fragte deshalb: „Ist das dieser Königsweg, der vom Uhsineberga zum Dietrichsberg führt?“

      Silvanus nickte, deutete aber seitwärts in den Wald hinein.

      „Wir folgen ihm nur ein kurzes Stück und zweigen gleich zum Kalendarium ab. Aber keine Bange, der Trampelpfad ist gut gangbar.“

      „Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet“, murmelte Loranthus mit Blick auf den goldenen Hut, der nach rechts ausscherte.

      Als er kurz darauf selbst vom Wege abbog und einem gewundenen Pfad folgte, gab er es auf, ständig den Hals zu recken. Fasziniert betrachtete er mächtige Tannenbäume und ausladende Kronen riesiger Buchen oder Ahorne. Zwei Männer hätte man gebraucht, um diese Stämme zu umfassen, vielleicht sogar drei.

      Ohne es zu bemerken, ging sein Kopf immer weiter in den Nacken und er staunte wie ein kleines Kind, als hätte er noch nie einen Wald gesehen. Das war natürlich Schwachsinn, aber er hätte es nicht benennen können … Er hörte die Stille, obwohl sich die Leute gedämpft unterhielten. Ab und zu erhaschte er auch einen kurzen Blick auf den goldenen Hut, sah Pilze zwischen Gräsern, roch sie sogar. Ein Eichelhäher flog krächzend auf … und da wusste er es: Er konnte den Wald fühlen, mit allen Sinnen erfahren.

      Umsichtig stieg er über knorrige Wurzeln, die so dick waren, dass sie tief hinabreichen mussten in die unterirdische Welt. Bewundernd betastete er die raue Borke von uralten Bäumen, die so warm und vielschichtig war wie das irdischen Leben. Andächtig lauschte er dem leisen Wispern von Bruder Wind, der so sachte durch die Wipfel streifte wie Viviane, als sie gestern die Frauen zum Tanzen geholt hatte … und so erhoben sich auch die vielen grünen Blätter und wiegten sich im Takt zu einer seufzenden Melodie … so anmutig … so weit oben … so erhaben … überirdisch.

      Loranthus hätte nicht sagen können, wie lange er zwischen den Welten gewandert war, doch unvermittelt war der Wald zu Ende und vor ihm erstreckte sich eine Hochebene.

      Kein Baum und kein Strauch stand darauf, aber dafür wurde sie von etwas anderem dominiert: Einem riesigen Steinring, in dem lange Holzstämme steckten. Oben, am Kopfende, waren sie durch Querstämme miteinander verbunden. Ein imposantes Bauwerk, fand er und dachte an einen gigantischen runden Käfig, bei dem die Gitterstäbe zu weit auseinander standen.

      Der steinerne Sockel war aus Basaltbrocken, wie alles hier in der Gegend. Er war auch nur kniehoch und daher nichts Besonderes, die gesamte Konstruktion dagegen schon.

      Die stehenden Stämme ragten alle pfeilgerade aus dem Sockel und hatten immer den gleichen Abstand zueinander. Damit sie schön senkrecht blieben, brauchten sie natürlich nicht nur Halt am Fuß, sondern auch am Kopfende, und diese aufliegenden Querstämme passten so exakt, dass kaum Fugen zu sehen waren.

      Anerkennend schürzte er die Lippen.

      Wie er die keltischen Holzhandwerker kannte, hatten sie alles sehr stabil gemacht, durch Spundung und Verzapfung. Selbst bei Sturm, Regen, Eis und Schnee würde dieser Ring stehen bleiben, weil es sich gegenseitig stützte. Ein perfekter, riesiger Kreis aus Stein und Holz, keine Ecken oder Kanten. Ja, warum eigentlich nicht?

      Bei näherem Hinsehen bemerkte Loranthus, dass die Aufliegerstämme eine leichte Krümmung aufwiesen. Womit bewiesen wäre, dass die Keltoi alle Hölzer krumm bekamen, wenn sie auch noch so dick waren, und am Ende passte es immer noch zusammen, es sei denn sie wollten mit Absicht eine Spirale machen, was die zweitbegehrteste Figur gleich nach dem Kreis war.

      Loranthus wurde plötzlich ganz aufgeregt, weil er in dem Kreis noch einen zweiten erblickte, genau im Zentrum, deshalb war dieser wesentlich kleiner. Er hatte keinen Steinsockel, die Stämme standen von alleine und waren viel dicker, extrem dick, um genau zu sein. Diesmal ragten allerdings immer nur zwei hoch und einer lag quer auf, dazwischen war nichts. Es schien fast so, als stünden die enormen Stämme nur durch ihr eigenes Gewicht. Vielleicht waren sie auch irgendwie in der Erde verankert.

      Loranthus reckte den Kopf, damit er besser sehen konnte und zählte schnell durch: Es waren fünf wuchtige Dreiergruppen, und sie waren untereinander wirklich nicht verbunden. Eigentlich bildeten sie auch keinen richtigen Kreis, sondern eher ein Hufeisen. Eine Stelle war nämlich weit offen geblieben und gab den Blick frei auf ein steinernes Becken genau im Mittelpunkt.

      „Komm!“, sagte Silvanus und führte Loranthus auf die hölzernen Pfeiler zu. „Der Weg führt uns genau zum Osteingang. Wir müssen das geweihte Land aber erst einmal umrunden. Dann dürfen wir eintreten und stellen uns an der Westseite auf.“

      „Aha“, murmelte Loranthus gedankenverloren und seine Augen huschten vom Trampelpfad um den Steinsockel herum zur gegenüberliegenden Seite. „Dort ist also Westen. Aber in welche Richtung müssen wir gehen? Rechts herum oder links herum?“

      Silvanus schmunzelte und sah bedeutsam drein, gab aber keine Antwort. Loranthus betrachtete ihn erwartungsvoll von der Seite und achtete nebenbei auf seinen Weg. Das war gar nicht so einfach, und er war gerade dabei, seine Ungeduld in Worte zu fassen, plus seine Miene passend zu verfinstern, da hatte er einen erhellenden Gedanken.

      „Jetzt wird mir alles klar wie ein Gebirgsbach! Wir gehen natürlich von Osten über Süden, nach Westen und Norden! Und aufstellen tun wir uns im Westen, damit wir die Sonne sehen können, die nach der Sonnenwende das erste Mal wieder aufgeht.“