die Stufe des Ha, der inneren Schöpfung, die höchste Stufe auf technischem Gebiet. Man hat seinen Meister erreicht, denn man hat nun Zugang zu allem, was dieser an Äußerem in die Kata gelegt hat. Die geistige Arbeit, die das Erreichen dieser Stufe voraussetzt, ist ermüdend und belebend zugleich. Das erzielte Ergebnis läßt sich nicht quantifizieren, es ist tatsächlich nicht sichtbar. Nur der Praktizierende selbst weiß, wo er sich nun befindet.
Dritte Stufe: Hierhin gelangt man nur ganz allein. Man denkt überhaupt nicht mehr an die Technik und doch wird sie mit größter Ernsthaftigkeit ausgeübt. Körper und Geist sind voneinander abgekoppelt. Paradoxerweise sagt man auch, daß nun eine Art Vereinigung von Körper und Geist erreicht wird. Man handelt, ohne etwas zu denken. Allenfalls denkt man vielleicht an irgend etwas anderes als an die Handlung. Eine Muskelkontraktion verlangt keine »Kontraktion« im Geist mehr. Man macht eine kraftvolle Bewegung, doch zugleich ist der Geist vollkommen ruhig. Jetzt wird die echte innere Arbeit möglich, die im Satori gipfeln kann, dem Erwachen, der »Rückkehr zur kosmischen Einheit« des Zen. Der Kampf ist etwas geworden, was sich außerhalb abspielt. Dies ist die Stufe des Ri.
Die Stufe des Ri zu erreichen bedeutet, die innere Entwicklung abzuschließen, ihren Höhepunkt zu erreichen. Das wirkliche Selbst ist erwacht. Man erlebt die Kata auf eine neue und sehr persönliche Weise. Die Freiheit ist wiedergefunden worden, und dies geschah durch codierte Bewegungen, was ein Paradoxon zu sein scheint. Die Kata wird gemäß den eigenen Vorstellungen »von innen« neu geschaffen, nachdem es zu einer Art wechselseitiger Durchdringung mit der auferlegten Form gekommen ist. Die Kata beginnt wieder zu leben. Auch wenn es nach außen hin nicht so scheint, hat die Kata nur noch sehr wenig mit dem zu tun, was man in der ersten Stufe praktizierte. Und erst jetzt ist man in der Lage, seine eigene Kata zu schaffen, wie dies einst mit dem Einverständnis und unter Berücksichtigung der Ratschläge des Meisters geschah.
All das ist der Grund, weshalb es nicht möglich ist, auf gerechte Weise eine Kata, die durch einen unbekannten Karateka vorgeführt wird, dessen Entwicklung man nicht mitverfolgen konnte, einzuschätzen. Dies gilt vor allem für Gürtelprüfungen. Natürlich gibt es immer irgendwelche Kriterien für die Einschätzung, aber diese sind sehr schwierig durch eine Jury zu erfassen, der es ausschließlich darum geht (und die oft leider auch ausschließlich dazu in der Lage ist), den dynamischen und ästhetischen Wert zu beurteilen, also die äußeren Aspekte einer Kata. Eine Kata durch jemanden beurteilen zu lassen, der den Ausführenden nicht seit längerem kennt, ist nur sehr eingeschränkt möglich. Genaugenommen nur dann, wenn sich der Ausführende auf der ersten Stufe, der Stufe des Shu befindet. Auf diesem Niveau ist es jedoch wenig bedeutsam, daß man beim Ausführen der Kata beobachtet und beurteilt wird. Man hat in jedem Fall das Gefühl, daß man die Kata je nach erreichtem Übungsgrad recht gut beherrscht.
Einige Jahre später wird man sich dessen vielleicht nicht mehr so sicher sein. Zwar ist man dann in der Lage, sie vollendet auszuführen, aber man ist sich möglicher Fehler sehr bewußt und auch der Relativität dessen, was man tut. Noch später, wenn man bereits höhere Graduierungen erreicht hat, wird man keinen Sinn mehr darin sehen, eine Kata vorzuführen, um sich dabei beobachten und beurteilen zu lassen. Die Kata ist inzwischen zu einer persönlichen Angelegenheit geworden. Entscheidet man sich, sie auszuführen, wird man dies mit absoluter Ernsthaftigkeit tun, ohne damit imponieren oder irgend etwas beweisen zu wollen. Die Kata ist nun die Verkörperung von etwas, das man im Innern trägt, und darum wird man sich nur wenig um den Eindruck, den sie auf andere macht, kümmern. Solch eine Kata kann vielleicht betrachtet, aber ganz gewiß nicht beurteilt werden, wenn man völlig ehrlich ist. Auf diesem Niveau wirkt die Kata befreiend, und ihre Lehren beginnen Früchte zu tragen.
Das Problem besteht nun darin, daß man nur selbst in der Lage ist, diese Entwicklung zu spüren, vor allem, wenn es um die Stufen des Ha und des Ri geht. Fehlt es einem an Bescheidenheit, so wird dies zu unwiderruflichen Irrtümern bei der Einschätzung der persönlichen Entwicklung führen. Es ist in jedem Fall besser, nichts zu überstürzen. Danach, was die Alten uns durch die Kata vermitteln wollten, sollte man in aller Bescheidenheit forschen. Ein solches Erbe vergeudet man nur ein einziges Mal.
All das bedeutet, daß das Forschungsgebiet der Kata tatsächlich unendlich ist. Man studiert die Kata sein ganzes Leben lang, wobei sich die Art und Weise mit dem Alter und dem Gesundheitszustand des Praktizierenden wandelt. Doch das wirkliche Studium beginnt erst dann, wenn man den Rausch des Kampfes oder des Sportwettkampfes weit hinter sich gelassen hat.
Jeder Karateka kann eines Tages ein bestimmtes Niveau der Praxis erreichen, auf dem er das Bedürfnis verspürt, der einen oder anderen Kata den letzten Schliff zu geben, die er von allen am meisten bevorzugt, die ihm besonders ans Herz wächst. Sie »fühlt« sich für ihn besser an als andere, da ihm die in ihr enthaltenen Techniken besonders geeignet für sich erscheinen. Dies ist die Tokui kata, die Lieblingskata des Karateka. Welche Kata dies sein wird, hängt u. a. von seinem Körperbau, seinen geistigen Anlagen, seinem Verständnis seiner Kunst und der Richtung seiner Suche ab. Sein Geschmack kann sich wandeln, wie auch seine Gesamtsicht auf das Karatedô, und auch sein Körper wird sich verändern. Zudem erweitert sich während seiner Entwicklung natürlich die Auswahl an Kata. Aus all diesen Gründen muß die Tokui kata nicht unbedingt zeitlebens die gleiche bleiben.
Diese bevorzugte Kata wird man intensiver und leidenschaftlicher ergründen als alle anderen. Besonderes Augenmerk wird man auf die Erforschung der Empfindungen, die durch sie hervorgerufen werden, richten. Die ersten Schritte bestehen darin, die Techniken und den Rhythmus der Kata korrekt auszuführen. Man wird sie häufiger als alle anderen Kata, intensiver, unter verschiedenen Witterungsbedingungen und an unterschiedlichen Orten üben. Man wird die Form der Ausübung variieren, indem man sie in umgekehrter Reihenfolge, mit geschlossenen Augen, mit umgekehrtem Atemrhythmus usw. ausführt.
Man wird zunächst sämtliche offenkundigen, formellen Anwendungen (Bunkai) kennenlernen. Doch dabei wird man es nicht belassen. Mit der Zeit wird man auch eine Menge weniger offensichtlicher Bunkai aus ihr entwickeln, weit über das elementare Niveau des Verständnisses hinaus. Dies sind die verborgenen Anwendungen der Kata, das heißt, Extrapolationen auf Grundlage der vorgegebenen, strengen Form, intuitive Verlängerungen von Techniken oder die Entschlüsselung von symbolischen Bewegungen.
Der Karateka, der dieses Niveau erreicht hat, wird nun verschiedene höchst subtile Gefühle empfinden, wie sie auch die alten Meister, die Väter des heutigen Karate, empfanden. Aus dieser höchsten Subtilität heraus bauten diese Meister absichtlich einige Fehler in den Ablauf der Kata ein, wie z. B. überflüssige oder unvollständige Bewegungen, Techniken oder Schritte, die unmöglich in die codierte Form paßten, oder invertierte Rhythmen. Der Zweck dieser Verfälschungen bestand darin zu vereiteln, daß unsichere Schüler oder gar Spione die echten Geheimnisse der Effektivität mißbrauchten. Der Karateka, der diese Verinnerlichungsarbeit, diese Neuerschaffung der Kata aus einem starren Schema vollbracht hat, befindet sich nun auf der höchsten Stufe der Vollendung. Nun muß er auch in der Lage sein, jene Fallstricke für die »Unbefugten« zu erkennen.
Am Ende dieser inneren Entwicklung wird die Kata zu einer Tat ohne jede Zweckbestimmung. Sie repräsentiert keine Stufe mehr, sondern einen Zustand. Dies stellt das Ende einer Welt des Scheinbaren dar. Die Kata, wie auch die Gesamtheit des Karatedô, von dem sie nur ein Teil ist, hat nun ihre höchstmögliche Vollendung und Effizienz erreicht. Jedoch erfüllt sie nun keinen Zweck mehr. Dies erinnert an die alte Weisheit aus der japanischen Schwertkampfkunst, die besagt: »Das Schwert ist in seiner Scheide ein Schatz.« Dies ist das höchste »Geheimnis« der Kata, des Schmelztiegels der »Nicht-Form«, die letzte Pforte der »Kampfkunst mit der bloßen Hand«.
Das sogenannte moderne Karate benötigt Ausbilder, Pädagogen, Techniker, Kämpfer, selbst Wettkämpfer. Aber noch mehr benötigt es Karateka, die ein hohes technisches Niveau erreicht haben und zugleich geistig in der Lage sind, die höheren Kenntnisse des Karate sorgsam zu bewahren. Denn wenn erst einmal die Gußform zerbrochen ist, wer könnte sie neu erschaffen?
Zeit der Reife?
Lange Zeit kamen die Karateka der westlichen Länder nur langsam voran. Ihre Kenntnisse im Karate blieben elementar, und ihr Wissen über die Kata stagnierte in den