Frank Rudolph

Wu


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ist nur ein Teil des Ganzen. Zu seiner Entwicklung bedarf es Zeit.

      Hier liegt auch der Unterschied zum Wettkampfsport. Eine sportliche Karriere ist sehr schnelllebig und wird oft durch die Jagd nach Erfolgen und Geld bestimmt. Viele Sportler werden dadurch zum Doping getrieben, was letztlich zur Zerstörung des eigenen Ichs führt. All dies hat nichts mit wushu und mit gongfu zu tun.

      Eine kleine Anekdote verdeutlicht das Wesen des gongfu sehr gut. Sie hat zwar mit den Kampfkünsten nichts zu tun, doch man erkennt an ihr die Universalität des hier Gesagten.

       Adolph Menzel und die Vignette

       Für ein von ihm illustriertes Werk fertigte Adolph Menzel vor den Augen des Verlegers eine Vignette an. Zweiundfünfzig Taler forderte er für seine Arbeit.

       »Was, zweiundfünfzig Taler, für zwanzig Minuten Arbeit? Das scheint mir denn doch etwas zuviel«, rief der Verleger aus. Doch Menzel blieb dabei.

       »Mein Lieber, um diese Vignette in zwanzig Minuten zeichnen zu können, habe ich siebzig Jahre meines Lebens als Lehrzeit nötig gehabt.«

      In China gibt es schier unzählige Geschichten, die sich direkt oder indirekt mit der Thematik befassen, und das schon seit Tausenden Jahren. Zwei davon habe ich für dieses Kapitel ausgewählt. Die erste Erzählung ist eine der bekanntesten und aussagekräftigsten über das gongfu. Sie stammt aus den Wudang-Bergen und verdeutlicht wie kaum eine andere mit einfachen Worten das, worum es hier geht. Es ist die Legende von Taizi (chin. Prinz, 太子), dem späteren Kaiser Zhen Wu (真武), und der Nadelschleiferin.

       Der Prinz und Nadelschleiferin

      Bereits in jungen Jahren war Taizi des Wohllebens überdrüssig, und er sehnte sich nach geistiger Reife. Im Alter von 14 Jahren, als er seine Unruhe nicht mehr beherrschen konnte, verließ er den Palast, um sich in die Abgeschiedenheit der Wudang-Berge zurückzuziehen. Seine Familie wollte ihn nicht gehen lassen und ließ ihn verfolgen, er aber entkam, indem er mit einem Schwerthieb hinter sich den Fels spaltete und so eine tiefe Schlucht in den Fels grub. Tief in den Bergen ließ er sich in einer Höhle nieder und meditierte einige Zeit. Doch der junge Mann kam zu keinem Ergebnis. Unzufrieden mit sich selbst beschloss er, ins weltliche Leben zurückzukehren. Auf seinem Abstieg vom Berg begegnete er einer alten Frau, die beharrlich eine grobe Eisenstange schliff. Verwundert hielt der Prinz inne und fragte: »Was tust du da?«

       Sie antworte: »Ich schleife eine Nadel aus dieser Stange.«

       Ungläubig wollte der junge Mann wissen: »Wie kannst du aus diesem Eisen eine Nadel schleifen?«

       Darauf meinte sie: »Indem ich geduldig schleife und schleife.«

       Das leuchtete dem Prinzen ein und er kehrte um. Die alte Frau aber verwandelte sich in eine purpurne Wolke und verschwand.

      Die zweite Erzählung entstammt der Sammlung des Zhuangzi28. Sie ist, wie die Anekdote um Menzel, eher eine Parabel. Eine Parabel mit mehreren Bedeutungen. Sie erläutert gongfu über einen Umweg und lässt einen begreifen, weshalb es oft falsch verstanden wird.

       Der alte Wagenradhersteller

       Der Beamte Han Gong war in der Lesehalle und studierte, während Lun Bian außerhalb der Halle Wagenräder anfertigte. Nach einer Weile betrat Lun Bian den Raum und fragte Han Gong: »Ist der weise Mann, der die Bücher macht, noch hier?«

       Han Gong antwortete ihm, dass dieser schon vor langer Zeit gestorben sei.

       Daraufhin sagte Lun Bian: »Nun, dann sind doch all die Bücher, die du hier liest, nur der Abfall toter Menschen und haben keinen Wert.«

       Als der Beamte das hörte, sprang er wie von einer Wespe gestochen auf und rief erregt: »Was sagst du da? Sag mir, wie du deine frechen Worte begründen willst! Wenn du weiter solchen Unsinn redest, werde ich dich hinrichten lassen.«

      Lun Bian fiel sofort vor ihm auf die Knie und sagte: »Ich bin nur ein einfacher Wagenradhersteller und verstehe nicht viel. Deswegen lass mich die Wagenradherstellung als Vergleich heranziehen, um zu zeigen, dass meine Worte richtig sind. – Wenn ich ein Wagenrad herstelle und sehr schnell mit Hammer und Meißel arbeite, dann spare ich Zeit und Energie, aber das Rad wird nicht rund sein. Wenn ich jedoch sehr langsam mit meinem Werkzeug bin, dann wird das Rad zwar eine vollkommen runde Form haben, aber ich vergeude viel Zeit und Kraft. Die beste Methode, ein Wagenrad herzustellen, ist, nicht zu schnell und nicht zu langsam zu sein und das Gefühl für den richtigen Krafteinsatz zu haben. Ich bin schon 70 Jahre alt, und ich mache immer noch Wagenräder. Aber das Gefühl des richtigen Krafteinsatzes bei der Wagenradherstellung kann ich nicht an meinen Sohn weitergeben. So kann auch nicht die Weisheit und Klugheit, die ein Weiser erreicht hat, durch Bücher an uns weitergegeben werden. Ist das nicht offensichtlich? Und sind die Bücher, die du liest, denn wirklich etwas anderes als der Abfall von Toten?«

      Ein Handwerker kann nur die grundlegenden Regeln vermitteln, kaum aber sein Gefühl für den richtigen Einsatz der Werkzeuge und der Kraft. Der Meister der Kampfkunst kann nur die Grundlagen und Formen lehren, aber nicht seine Fähigkeiten und Erfahrungen. Die Studierenden und Gelehrten glauben, dass das Verstehen des geschriebenen Wortes in den Büchern von größtem Wert ist. Viel wichtiger und wertvoller ist es aber, das Ungeschriebene zu verstehen. Wir nennen dies das »Lesen zwischen den Zeilen«. Leute, die Bücher lesen und sich Bücherwissen aneignen können, sind nicht zwangsläufig auch fähig, wirklich etwas zu verstehen.

      Clausewitz29 schrieb, dass bei der Kunst das Können der Zweck sei. Können jedoch ist ausschließlich durch praktisches Lernen und Üben erwerbbar, ein Buch kann es nicht vermitteln. Können aber ist das, was die Kampfkunst – und gongfu – letztendlich ausmacht. Wissen hingegen kann durch ein Buch vermittelt werden. Aus diesem Grund erwähne ich in dieser Arbeit immer wieder die wissenschaftlichen Aspekte der Kampfkunst, sozusagen die Darstellung der Kampfkunst als Kampfwissenschaft. Bei der Wissenschaft geht es nur um das Wissen. Wissen und Können sind zwei Komponenten, die zusammenhängen können und sollten, aber nicht müssen.

      Bei der Mehrschichtigkeit der chinesischen Sprache wundert es sicher niemanden, dass es noch andere, tiefgreifende Bedeutungen des Wortes gong (fu) gibt. Eine dieser Bedeutungen wird durch folgendes Sprichwort gut erläutert: »Lian wu bu lian gong, dao lao yi chang kong« (练武不练功, 到 老一场空). –»Trainiert man Kampfkunst, aber kein gong, bekommt man im Alter gesundheitliche Probleme und hat trotz des Trainings nichts erreicht.« In diesem Fall bezeichnet gong (fu) eine Trainingsmethodik, das heißt Gong-Trainingsmethoden und -Übungen.

      In der zweitausendjährigen Geschichte der chinesischen Kampfkünste wurden diese Übungen nach und nach entwickelt, indem man den Körper und die Natur genau beobachtete. Diese Übungen sind keineswegs mysteriös. Alles kann wissenschaftlich begründet werden und hat nur mit einem ausdauernden Training voller Hingabe zu tun. Es sind Methoden für die Gesundheit und für den Kraftaufbau. Inzwischen sind allerdings die meisten Gong-Übungen ausgestorben. Es gibt aber immer noch sehr viele davon. Auch das im Westen sehr bekannte taiji ist als eine Art Gong-Übung zu betrachten.

      Die im Westen verbreitete Devise »Brust raus, Bauch rein« gilt in Asien seit jeher genau umgekehrt. Das geht soweit, dass selbst die Mode als Spiegel verschiedenster Philosophien über die Jahrhunderte hinweg hierdurch beeinflusst war und es noch immer ist. Das typische Merkmal von eigentlich fast allen Gong-Grundübungen ist die natürlich zurückgezogene Brust, wobei der Oberkörper eine leicht gekrümmte Form einnimmt. In dieser Stellung wird das Herz in eine Lage gebracht, die sehr beruhigend auf es wirkt. Auf Chinesisch sagt man dazu baoxin (包心). Das Herz wird »eingewickelt« und dadurch in eine Position gebracht, die sich auf den ganzen Körper positiv auswirkt