Petra Gabriel

Operation Gold


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So viel zumindest hatte Marie mitbekommen.

      Sie starrte auf ihren Block. Da stand bisher nichts. Hoffentlich war dieser Hans Corvus nicht allzu streng. Sie kannte ihn noch nicht. Du liebe Güte – wenn er sah, dass sie bisher nichts notiert hatte, dann musste sie sich ja zu Tode schämen.

      Sigrids Freier aus den gehobenen Kreisen, von denen an diesem Morgen immer mal wieder die Rede gewesen war, würden erst am Nachmittag aussagen, natürlich nicht öffentlich, damit die Herren nicht kompromittiert würden. Das galt auch für Dieter Krug. Bei diesem Namen krampfte sich wie immer ihr Magen zusammen. Irgendwann würde sie dem Mann heimzahlen, was er ihrer Mutter angetan hatte.

      Da es sich bei der 5. Großen Strafkammer nicht um ein Jugendgericht handelte, musste diese Sigrid Dehne mindestens achtzehn Jahre alt sein. Sie sah jedoch aus wie sechzehn, ein halbes Kind. Vielleicht hatte sie sich auch älter gemacht, um zum Anschaffen gehen zu können, und kam nun aus der Nummer nicht mehr heraus. Arme Kleine. Zierlich und völlig ungeschminkt saß sie da auf ihrem Armesünderstühlchen und wirkte, als könne sie kein Wässerchen trüben. Marie betrachtete die junge Frau. Unvorstellbar – diese so verletzlich wirkende Jane sollte an einem derart brutalen Überfall beteiligt gewesen sein? Ob sie wohl die Gelegenheit erhielt, mit ihr zu reden? Wenn sie ihre Sache gut machte, würde sie vielleicht weitere Aufträge für diesen Prozess und andere Themen bekommen. Und die brauchte sie unbedingt, um in Berlin bleiben und mit Hilfe ihrer Stellung als Tagesspiegel -Reporterin auch noch ihre eigenen Nachforschungen anstellen zu können.

      Marie wurde zunehmend nervös. Ob dieser angekündigte Zeuge wirklich der Dieter Krug war? Ob sie ihn trotz der nichtöffentlichen Vernehmung irgendwie zu Gesicht bekommen konnte? Sie musste in der Mittagspause unbedingt versuchen, den Referendar zu erwischen, den der Staatsanwalt mitgebracht hatte. Er sah nett aus.

      Der Vorsitzende Richter donnerte mit dem Hammer auf den Tisch, Marie schreckte hoch. Mittagspause. Vielleicht kam jetzt eine Gelegenheit, etwas mehr zum Fall und zu den Zeugen zu erfahren.

      «Na, Schwierigkeiten? Keine Bange, das wird schon. Das geht anfangs vielen so. Besonders bei Fällen wie diesem.»

      Marie hatte ihren Sitznachbarn bisher nicht beachtet. Sie drehte den Kopf zu ihm. «Wie kommen Sie darauf?», erwiderte sie eisig.

      Er ließ sich nicht beirren und tippte mit dem Finger auf ihren leeren Block. Dann grinste er. «Nun, da steht herzlich wenig.»

      «Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram!», fauchte Marie zurück.

      «Oh, entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein! Ich wollte nicht aufdringlich werden. Nur helfen. Gestatten Sie, John, John Weißbrot. Ich bin Amerikaner, Mitarbeiter von Generalmajor Maxwell Taylor, Sie wissen schon, dem Kommandanten des amerikanischen Sektors und der alliierten Truppen in Berlin. Ich kenne hier viele der Juristen. Ich hätte Sie mit einigen bekannt machen können, die Ihnen weiterhelfen. Aber wenn Sie keinen Wert darauf legen …»

      Doch! Das war genau die Hilfe, die sie brauchte. Dafür würde sie sogar diesen unverschämten Kerl in Kauf nehmen, dachte Marie und schaute genauer hin. Eigentlich sah er ganz gut aus, trotz der GI-Frisur. Das spitzbübische Grinsen gab ihm etwas Jungenhaftes. Und ein Grübchen im Kinn hatte er auch. Sie schmolz in schöner Regelmäßigkeit dahin, wenn ein Mann ein Grübchen im Kinn hatte. «Doch, doch», sagte sie schnell und versuchte sich in einem versöhnlichen Lächeln.

      «Na, dann wollen wir mal! Viele Anwälte, Referendare und Zeugen stehen in der Pause vor dem Saal auf der Galerie oben in der Haupthalle, nahe dem Scheitel der schönen Kuppel, you know. Dort, wo die Tierkreiszeichen weiß und golden blinken – sozusagen als Mahnung, dass über diesem irdischen Jammertal allein der Himmel regiert.»

      «Auch noch ein Romantiker», erwiderte sie trocken und wunderte sich, dass er so gut Deutsch sprach. Das ließ in Verbindung mit seinem Nachnamen nur einen Schluss zu. Doch sie kannte ihn nicht, und sie konnte ihn wohl kaum fragen, ob er aus einer ausgewanderten jüdischen Familie stammte.

      Vor dem Saal steuerte Maries neuer Bekannter auf den Verteidiger der Prostituierten Jane zu. Der stand auf einer der grünblau belegten, messinggefassten Steinstufen, hatte sich zur Saaltür hin ans Geländer gelehnt und sagte gerade zu einem kompakt wirkenden älteren Herrn: «Was meinen Sie, wie’s ausgeht, Herr Kriminaloberkommissar?»

      Der Angesprochene zuckte die Schultern. «Selbst unsereiner hat es schwer, so was einzuschätzen. Ich kann nur sagen, was ich von diesem Zeugen, diesem Schlüter, gehört habe. Vielleicht hilft das ja Ihrer Mandantin.»

      «Sie auch hier, Kappe? Lange nicht gesehen!», orgelte Maries neuer Bekannter und tippte dem untersetzten Kriminaloberkommissar auf die Schulter.

      Der drehte sich um. «Ah, der Pilot! Schön, Sie mal wieder zu sehen. Schnieke Bomberjacke!» Eines seiner vergissmeinnichtblauen Augen zwinkerte dem Amerikaner zu.

      Dieser Kappe musste um die sechzig sein, schätzte Marie. Aber das war schwer zu sagen, er hatte ein fast faltenloses, noch immer rundes Kindergesicht, und seine Nase war wie ein kleiner Knubbel. Der Mann wirkte gemütlich. Nur der Blick verriet, dass er schon viel gesehen haben musste. Marie hatte den Eindruck, dass diesen wachen Augen nichts entging.

      Moment, wie hatte Kappe ihren Begleiter genannt? Pilot. Marie registrierte jetzt, was sie in der Aufregung übersehen hatte. Der Mann trug eine dieser Bomberjacken aus Schaffell der United States Air Force. Bomberjacke – das Wort schwang in ihr nach. Besonders der erste Teil. Sie bekam eine Gänsehaut. Den Schrecken der Bombennächte, als sie und die Mutter zum zweiten Mal vor dem Nichts gestanden hatten, mit vom Phosphor verbrannten Haaren, abgesengten Augenbrauen und nur noch im Nachthemd, hatte sie noch deutlich vor Augen. Die Haare waren nachgewachsen, aber die Alpträume geblieben. Sie rückte ein wenig von ihrem neuen Bekannten ab.

      Der gab sich den Anschein, nichts zu bemerken. «Was höre ich da, der Arm des Gesetzes hilft heute der Angeklagten?», fragte er den Kommissar.

      «Ich versuche nur, der Wahrheit auf die Sprünge zu helfen», erwiderte Kappe knapp.

      «Im Zweifel für den Angeklagten», ergänzte der Verteidiger, ein noch recht junger Mann, hoch aufgeschossen, fast schlaksig, mit ziemlich langen Armen. Marie hatte das Gefühl, dass er nicht wusste, wo er seine Hände lassen sollte. Vermutlich ein Pflichtverteidiger, der versuchte, sich die ersten Sporen zu verdienen und Erfahrungen zu sammeln, dachte sie.

      «Das ist der Doktor der Rechte Peter Ostertag. Peter, das ist … eine junge Dame, deren Namen ich nicht kenne, die aber offenbar den Auftrag hat, von diesem Prozess zu berichten. Doch sie ist neu hier und schwimmt. Zumindest habe ich das ihrer Art zu beobachten und ihrem leeren Block entnommen. Sie braucht einen Ansprechpartner, der ihr weiterhilft. Stimmt doch, oder, Fräulein …»

      «Marie, Marie Palmer. Ich schreibe für den Tagesspiegel.» Es erfüllte sie mit – wie sie fand, albernem – Stolz, das sagen zu können. Dass sie in Sachen Gerichtsberichte eine vollkommene Anfängerin war, brauchte sie den Herren nicht unbedingt auf die Nase zu binden. Dann gab sie sich einen Ruck und strahlte den jungen Pflichtverteidiger an. «Es ist wahr, ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen.»

      Weißbrod grinste. «Der Tagesspiegel residiert doch im Ullsteinhaus im amerikanischen Sektor, da unterliegen Sie sozusagen meinem Zuständigkeitsbereich. Grüßen Sie Reger und Karsch von mir!»

      Marie nickte nur. Mit dem Namen Karsch konnte sie noch nichts anfangen. Sie sollte den bekannten Theaterkritiker und Kulturjournalisten des Tagesspiegel erst noch kennenlernen.

      «Ich lese den Telegraf », warf Kappe ein. «Aber wenn ich Ihnen weiterhelfen kann, mache ich das natürlich trotzdem. Sehen Sie, da hinten, das ist Medizinalrat Doktor Waldemar Weimann. Eine Koryphäe sozusagen. Soll heute Nachmittag sein Gutachten zu unserer Jane abgeben. Er hat beim großen Prozess gegen Bandenchef Werner Gladow und seine Spießgesellen ausgesagt, das ›Doktorchen‹ sei ein armer, erblich belasteter Mensch. Und dass er es unter anderen Umständen weit hätte bringen können, hochintelligent und vielseitig begabt, wie er ist.» Kappe kniff die Lippen zusammen.

      «Sie sind mit seinen Einschätzungen nicht einverstanden?»

      «Mein liebes Fräulein,