Petra Gabriel

Kaltfront


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Junge!», sagte Kappe.

      «Da ist noch was. Ich hab nur einmal geschossen, ganz sicher. Es sind aber drei Schüsse gefallen. Die Kollegen haben das auch gehört. Sie suchen jetzt alles nach Patronenhülsen ab, aber bisher Fehlanzeige. Da stimmt doch was nicht! Onkel Hermann, kannst du mir helfen? Wenn die Frau es nicht war, die geschossen hat, wer dann? Vielleicht hat es jemand auf die Frau abgesehen und die günstige Gelegenheit der Razzia genutzt. Wenn du mich fragst, dann hieße das doch, ich sitze tief im Schlamassel und sie schwebt in Gefahr.»

      «Oder der Tipp war doch keine Ente, und jemand hat auf dich geschossen, Junge.»

      «Das glaub ich nicht. Warum sollte das jemand tun?»

      «Vielleicht waren die Fälscher doch in der Wohnung und sauer, dass sie wegen euch flüchten mussten. Könnte doch sein.»

      «Ach, Onkel Hermann, das ist alles Stochern im Nebel. Jetzt muss ich erst mal meine Unschuld beweisen. Hilfst du mir?»

      «Selbstverständlich! Was kann ich tun?»

      «Auf jeden Fall ist an der Sache was faul. Ich muss einfach wissen, was dahintersteckt – darf aber vorerst nicht mehr ermitteln. Wie soll ich das denn aushalten? Einfach nur rumsitzen, das kann ich nicht! Ich würde wenigstens gerne zu der Frau ins Urban-Krankenhaus gehen, um mich zu entschuldigen. Falls sie mich überhaupt sehen will. Es ist vielleicht besser, ich hab jemanden dabei, einen Zeugen, zur Sicherheit. Damit nicht noch irgendwer denkt, ich wolle sie beeinflussen oder so. Na ja, und du bist auch ein erfahrener Mann, vielleicht könnest du …»

      «Jut, machen wir! Wann willste hin?»

      Otto sah ihn flehend an. «Am liebsten gleich. Ich bin unruhig, solange ich nicht weiß, wie es der Frau geht. Außerdem hab ich nichts anderes zu tun.»

      «Weiß Trudchen schon davon?»

      Otto schüttelte den Kopf. Er sah aus wie ein geprügelter Hund. «Nee, hab meiner Frau noch nix gesagt.»

      Kappe nickte. «Dann lass uns gehen!» Er stand auf, stapfte in den Gang und wickelte sich wieder in seine Polarausrüstung, die am Kleiderhaken an der Wohnungstür hing. Otto tat es ihm gleich.

      Klara, die noch immer in der Küche herumfuhrwerkte, sie aber offenbar gehört hatte, riss die Tür auf, und ein appetitlicher Geruch von gebratenen Bücklingen strömte ihnen entgegen. «Grog kommt gleich. Otto, willst du mitessen?» Sie stockte. «Nanu, wo wollt ihr denn hin?»

      Die beiden Männer sahen sich verlegen an. «Wir haben noch einen Krankenbesuch zu machen, bei einer Bekannten von uns beiden», schwindelte Hermann Kappe. Erst mal hatte Gertrud das Recht, von der misslichen Lage zu erfahren, in der ihr Mann steckte. Klara konnte er das alles später noch erklären.

      «Muss das jetzt sein? Ich meine, das Essen ist bald fertig – Bückling, Bratkartoffeln und dicke Bohnen. Kommt ihr bald wieder?»

      «Ich bleib nicht lang», versprach Kappe.

      Und Otto sagte: «Tut mir leid, Tante Klara! Danke für das Angebot, aber ich ess wohl lieber daheim. Trudchen wartet auf mich.»

      Bevor Klara Kappe noch eine weitere Bemerkung machen konnte, waren die Männer aus der Wohnung und zogen die Tür hinter sich zu.

      Anfangs wollte ihnen im Urban-Krankenhaus niemand sagen, in welchem Zimmer sich die Frau befand, die an diesem Morgen angeschossen worden war. Also zückte Otto doch seine Dienstmarke. Daraufhin erfuhren sie, dass die Verwundete auf der Inneren lag. Die Stationsschwester erklärte ihnen, dass es ihr gutgehe. Es sei viel weniger schlimm, als anfangs befürchtet. Die stark blutende Wunde am Hinterkopf, wohl durch den Sturz verursacht, sei genäht worden. Die Schussverletzung habe sich als Streifschuss an der rechten Seite entpuppt, der keine größeren Schäden angerichtet habe, vor allem keine inneren Verletzungen.

      Kappe konnte an Ottos Gesichtsausdruck sehen, dass dem ein ganzes Gebirge vom Herzen fiel. Obwohl er suspendiert blieb, bis bewiesen war, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.

      Schon sehr viel entspannter, traten sie ins Krankenzimmer der Patientin. Aus drei Betten schauten ihnen Frauengesichter entgegen, die Otto fremd waren Das vierte Bett war leer.

      «Wo ist sie?», stammelte Otto.

      Eine ältere dicke Frau lächelte milde. Eine andere, wohl mittleren Alters, schnaufte nur und schloss die Augen. Die dritte, um die dreißig vielleicht, fragte: «Sind Sie der Mann von ihr?»

      «Kriminalpolizei», sagte Hermann Kappe an Ottos Stelle. «Wo ist Ihre Zimmergenossin? Wir müssen ihr ein paar Fragen stellen.»

      «Wech», antwortete die ältere Frau.

      «Was heißt wech?», fragte Kappe senior verblüfft.

      «Seit wann verstehn die Berliner Kriminaler kein Deutsch mehr? Wech. Wissen Se nich, wat dit heeßt? Ick hätt jetzt jern meine Ruhe. Sie sind hier nämlich innem Krankenzimmer, und mich ham se erst gestern Morgn operiert. Also!» Damit schloss die mittelalte Patientin wieder die Augen.

      «Aber sie kann doch nicht einfach so …», hob Otto an.

      «Ida hat gesagt, sie müsse dringend weg, hat ihre Sachen gepackt und sich aus dem Zimmer geschlichen. Die Schwestern wissen noch nichts davon. Sie hat uns beschworen zu warten, bis wir was sagen», erwiderte die junge Frau.

      «Ida heißt sie also», sagte Hermann Kappe.

      «Hat se jesacht», fiel die Dicke ungeduldig ein.

      «Und warum wollte sie so dringend weg?»

      «Dit hat se nich jesagt», antwortete die am Vortag Operierte. «Also, jehn Se nu?»

      «Ja, wir gehen ja schon», sagte Kappe.

      Als sie den Stationsarzt endlich aufgetrieben hatten, konnte der ihnen auch nicht mehr sagen. Er wusste noch nicht einmal, wie die verschwundene Patientin mit Nachnamen hieß, und zuckte nur müde mit den Schultern. Es sei zu viel zu tun. Ständig kämen Leute mit Erfrierungen oder Brüchen nach Stürzen auf glatten Bürgersteigen rein. Er komme kaum nach. Aber vielleicht wüssten die Kollegen in der Notaufnahme mehr.

      Die junge Krankenschwester, die dort Dienst tat, war geschockt, als sie vom Verschwinden der Frau erfuhr. Papiere habe diese nicht bei sich gehabt. Sie habe sich zudem geweigert, ihren Namen zu nennen. Weil sie sehr verwirrt gewirkt, offenbar unter Schock gestanden und stark aus einer Kopfwunde geblutet habe, sei sie von der Notaufnahme zunächst in die Chirurgie überwiesen worden. Es sei dringender gewesen, das Blut zu stillen und die Schusswunde zu versorgen, als Papiere auszufüllen. Danach sei sie auf die Innere verlegt worden. Eigentlich habe sie demnächst nach ihr schauen wollen.

      «Aber nun ist sie weg», sagte Hermann Kappe.

      «Ja, nun ist sie weg», wiederholte sein Neffe.

      «Und was machen wir nun?», fragte die Krankenschwester.

      «Gute Frage», sagte Hermann Kappe. «Ich denke, wer die Rechnung bezahlt, müssen Sie selbst klären. Wir gehen dann.» Damit nickte er der Schwester zu und machte sich mit Otto auf den Weg nach draußen. «Und wir beiden Hübschen, lieber Neffe, sollten herausfinden, wem die fragliche Wohnung eigentlich gehört», fügte er an, während sie durch den Flur marschierten.

      Otto nickte. «Ich werd meine Quellen anzapfen. Das solltest du am besten auch tun, Onkel Hermann. Vielleicht kriegn wir denn ’nen Hinweis, woher der Tipp jekommen is.»

      «Männerstimme? Frauenstimme?», hakte Kappe nach.

      «Wees ick nich.»

      «Dann wissen wir wirklich nicht viel», antwortete Kappe, machte aber ein zufriedenes Gesicht. Die Entwicklung war zwar sehr unerfreulich, aber ihre Nachforschungen schienen Otto ein wenig abzulenken, er wirkte schon ein wenig gefasster. Und er selbst konnte endlich mal wieder arbeiten, anstatt Klara auf Märkte zu begleiten und Bücklinge zu kaufen. Dass er seinem Neffen half, dagegen konnte selbst Klara nichts einwenden. «Wie ist das mit deinen Kollegen? Könntest du jemanden von ihnen um Hilfe bitten? Wir werden sie wohl brauchen.»

      Otto