und nicht deines!», rief Yvonne.
«Ja, symbolisch. Du denkst doch nicht etwa, dass Martina ihn einen Augenblick aus den Augen lässt und ihr beide wirklich … » Schon stand Zützer neben ihr. «Ich mein das ernst: Fünfzig Mark, und du spielst die Nutte.»
«Okay.» Yvonne liebte solche Szenen. «Her mit dem Geld, sonst läuft nüscht, mein Kleena.»
Zützer zog den Geldschein aus der Tasche, und Yvonne spielte daraufhin in der Wohnung ihre Rolle so echt, dass die Nachbarin gegen die Wand klopfte und sich über «det fürchterliche Jestöhne» beschwerte.
«Lassen sie dich mit deiner klapprigen Ente überhaupt nach Lichterfelde rein?», fragte Yvonne, als sie sich endlich auf den Weg machten.
Zützer zuckte mit den Schultern. «Kann schon sein, dass wir nicht ankommen, denn auf irgendeiner Fahndungsliste stehe ich bestimmt.»
Auf der Fahrt von Neukölln nach Lichterfelde unterhielten sie sich über das Attentat, das die Tupamaros in Montevideo begangen hatten, und über Heinz Rühmann, der anlässlich seines siebzigsten Geburtstages in der Filmbühne Wien am Kurfürstendamm die Ehrenmedaille der deutschen Filmwirtschaft erhalten hatte.
«Ein unvergleichlicher Schauspieler!», schwärmte Yvonne.
«Und dazu ein wunderbarer Propagandist der Nazis», sagte Zützer. «Von seiner jüdischen Frau ließ er sich sicherheitshalber scheiden.»
Yvonne staunte. «Ich denke, Die Feuerzangenbowle ist dein Lieblingsfilm?»
«Ja.» Zützer schlug mit der Faust auf die Hupe. «Es ist schon eine schöne Scheiße, Deutscher zu sein!»
«Ich kann es nicht fassen», sagte Yvonne, als sie die Villa am Kadettenweg erreicht hatten. «Du als Anarchist zu Gast bei den Erkenbrechers … »
Zützer lachte. «Lieber schizophren als ganz allein.» Rainer Erkenbrecher kam ihnen entgegen, und die beiden Freunde lagen sich in den Armen, während Zützer seine Glückwünsche an den Mann brachte. «Geschenkt bekommst du von mir zwei Nummern mit Yvonne. Stellung nach eigener Wahl. Ich würde a tergo empfehlen, aber reiten kann sie auch ganz gut.»
Martina, Erkenbrechers Verlobte, stand am Gartentor und verfolgte das Ganze mit finsterer Miene. Einerseits tat sie Zützer leid, andererseits aber hoffte er, dass es mit den beiden bald aus sein würde, denn sie war keine Frau für einen Rainer Erkenbrecher.
Martina Grabow war 1951 in Berlin-Pankow auf die Welt gekommen, also in Ost-Berlin, aber vor dem Mauerbau mit ihren Eltern nach West-Berlin gegangen, wo sie eine Stelle als Sachbearbeiterin bei der AOK bekommen hatte. Sie war hübsch, aber mehr als bieder, vom Temperament her eine echte Schlaftablette und dazu herzlich ungebildet. Unter den Künstlern und Intellektuellen, die in der Lichterfelder Villa der Erkenbrechers ein und aus gingen, wirkte sie wie ein Fremdkörper. Das scherte sie jedoch wenig, denn sie hielt die anderen Frauen allesamt für eingebildete Zicken, die möglichst schnell zum Psychiater gehen sollten.
Die Zeremonie nahm ihren Lauf, und bald hatten sich über fünfzig Gäste auf dem Rasen hinterm Haus versammelt. Um alle standesgemäß zu verköstigen, hatten die Erkenbrechers ein Team des KaDeWe bestellt, das hinter riesigen Tischen stand und den Leuten Erlesenes auf die Teller häufte. Auf einer kleinen Bühne spielte eine Combo, und Ernest Erkenbrecher kündigte in einer kleinen Rede von zwanzig Minuten für den späten Abend noch prominente Überraschungsgäste an.
«Na, was sagst du zu dieser Dekadenz?», wurde Zützer von Yvonne gefragt.
Er lachte. «Besser Dekadenz als Egon Krenz.» Den Vorsitzenden der Pionierorganisation Ernst Thälmann hielt er für einen ganz besonderen Simpel des DDR-Regimes, und oft fragte er sich, ob das andere Deutschland nicht viel größere Chancen gehabt hätte, als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorzugehen, wenn an seiner Spitze nicht solche Pappnasen wie Ulbricht und Honecker gestanden hätten, sondern Männer von Format.
Schnell begann Zützer sich zu langweilen. Nicht mal einen Flipper gab es hier, und Tischtennis spielen konnte er auch nicht, weil auf der Platte das Büfett aufgebaut war. Er suchte nach dem Onkel aus den USA. Mit dem konnte man wahrscheinlich ganz gut über die Folgen des Vietnamkrieges diskutieren.
Dr. Lilienblum liebte es, im Gerümpel zu stöbern, ob auf einem Speicher oder hinter der Garage und dem Gerätehäuschen seines Cousins. Plötzlich erblickte er ein vergammeltes Ruderblatt mit Pinne. Er riss es aus dem Gestrüpp und trug es wie eine Fahnenstange zum Grill.
«Bringst du uns was zum Verfeuern?», rief Ernest Erkenbrecher.
«Wo denkst du hin! Anbeten sollten wir es wie einen Totempfahl, denn es erinnert mich an meine Karriere im akademischen Ruderverein.» Und er berichtete mit feuchten Augen von seinem olympischen Traum. «Ich wollte unbedingt dabei sein, 1936 hier in Berlin, aber dann … »
«Haben Sie denn Lust, morgen mal nach Grünau rauszufahren?», fragte Zützer.
Lilienblum zögerte. «Lust schon, es fragt sich nur, ob ich den nötigen Mut dazu aufbringe.»
«Bring ihn mal auf», sagte Rainer Erkenbrecher. «Ich komme mit, und dann besuchen wir alle zusammen Carola.»
«Ich nicht!», rief Martina.
«Wer ist Carola?», fragte Dr. Lilienblum. «Ich kenne nur Rudolf Caracciola. Für mich der größte Rennfahrer aller Zeiten. Zuletzt habe ich ihn 1931 gesehen, als er den Großen Preis von Deutschland gewonnen hat.»
«Nicht Caracciola, sondern Carola», belehrte ihn Georgia Erkenbrecher.
«Ja, Carola Lamberti – eine vom Zirkus., fiel Zützer ein.
«Ein DEFA-Film von 1953, glaube ich. Mit Henny Porten in der Hauptrolle.»
Lilienblum guckte etwas irritiert. «Und was habt ihr mit dieser Carola Lamberti zu tun?»
«Nichts», erwiderte Rainer Erkenbrecher. «Außer, dass meine Cousine auch Carola heißt.»
Dr. Julius Lilienblum las, als sie auf der Fahrt nach Grünau waren, laut vor, was im Album des Cigaretten-Bilderdienstes Hamburg-Bahrenfeld über die Ruderwettbewerbe der Olympischen Spiele von 1936 geschrieben stand.
Er hatte die beiden Bände auf dem Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni billig erstanden: « Rudern in Grünau. In den phantastischen Gemälden und Geschehen der Berliner olympischen Ereignisse war dem Rudersport ein besonderer Ehrenplatz beschieden. Die herrliche Fülle von Erfolgen des deutschen Sports hatte die Stimmung im Fortschreiten der Tage auf einen Höhepunkt getrieben, der unüberbietbar schien. Da entstand unter den Wolkenbrüchen des 14. August in Grünau ein Glanztag sportlicher Gipfelleistungen, der beispiellos in allem war und kaum in der Zukunft eine Wiederholung finden wird und kann. In 7 olympischen Wettkämpfen erstritten die deutschen Kämpfer 5 goldene, 1 silberne und 1 bronzene Medaille und stellten den deutschen Rudersport an die Spitze aller Nationen der Welt. Fast unfassbar war dieser überwältigende Erfolg, der in einzigartiger Weise die Krönung des 100-jährigen Bestehens des deutschen Rudersports bildete. In ihm kristallisierte sich Arbeit und Fleiß von Generationen. Der Fortschritt der Technik im Rudern und Bau der Boote. Der restlose Einsatz und unerschütterliche Kampfgeist der besten deutschen Jugend. Inmitten seines begeisterten Volkes ragte die Gestalt des Führers hervor, dessen starker Wille das deutsche Volk zu den größten Taten befähigt hatte und sicher gehörten die Stunden in Grünau zu den glücklichsten seines unvergleichlichen Lebens..
Hier brach Lilienblum ab, da ihn die Erinnerungen zu sehr aufwühlten.
«Schmeißen Sie den Scheiß ins nächstbeste Feuer!», rief Günther Zützer.
«Soll ich etwa das gleiche tun wie die?», fragte Lilienblum.
«Es ist ein Dokument deutscher Geschichte», gab Rainer Erkenbrecher zu bedenken, «und erklärt einiges.»
«Ja, das klammheimliche Deutschland, Deutschland über alles bei den nächsten Olympischen Spielen», sagte Zützer.
«Und die findet 1972 zum ersten Mal mit zwei deutschen Mannschaften statt», fügte Erkenbrecher hinzu.