Mario Ganß

Behindert? - Was soll’s!


Скачать книгу

die unten ihren Klassenraum hatten, schliefen teilweise hier oben. Diejenigen, die nicht allein die Treppen hinauf kamen, wurden hoch getragen. Einen Fahrstuhl gab es nicht.

      Im Dachgeschoss richtete man einige Zimmer für das Personal her, welches von weiter entfernt kam und nicht jeden Tag zur Arbeit fahren konnte. Hier oben hatten ebenfalls die Lehrer ihr Zimmer. Desweiteren existierten auf dem Boden noch kleine Kammern, die zur Aufbewahrung von Dingen jeglicher Art dienten.

      Im Innenbereich des Heims II sah man kaum Rollstühle, das war den Kindern aber egal, da sie sich auch ohne gut fortbewegen konnten. Wir bewegten uns so vorwärts, wie wir es von zu Hause her gewohnt waren, meistens krabbelnd. Sollten die Hände nach dem Waschen einmal sauber bleiben, dann wurden wir von den Erziehern oder Pflegern an den Tisch gesetzt oder ins Bett getragen.

      Für unser körperliches Wohlbefinden kümmerte sich das pflegerische Personal. Es sorgte unter anderem für hygienische und medizinische Maßnahmen, wie zum Beispiel die Medikamentengabe. Neben den Lehrern waren auch Erzieher tätig, die uns hauptsächlich am Nachmittag betreuten und mit uns beispielsweise Hausaufgaben machten. Aber die Erzieher brachten uns abends auch ins Bett und unsere Pflegekräfte schauten uns bei den Hausaufgaben schon mal über die Schulter. Es war ein harmonisches Zusammenspiel der Mitarbeiter, ein Hand in Hand aller Angestellten. Durch diese enge Zusammenarbeit entstand eine Atmosphäre, die einer Großfamilie glich. Egal ob Lehrer, Erzieher oder Pfleger, der eine war einfach für den anderen da, wenn auch vornehmlich für seinen zuständigen Bereich. Niemand hielt sich für etwas Besseres! Jeder der Beschäftigten brachte uns Kindern seine ganz eigene Fürsorge, ja teilweise Liebe entgegen. Wir fühlten uns geborgen! Und gerade dieses persönliche Engagement der Mitarbeiter machte unter anderem das Einmalige dieser Einrichtung aus.

      Schnell lebte ich mich in Oehrenfeld ein. Das Leben und das Spielen in der Vorschule mit den anderen Kindern machten mir richtig viel Spaß. Ich lachte viel und gern.

      Seitdem ich in Oehrenfeld war, hatte ich ein Problem. Ich konnte immer noch nicht ohne Unterstützung allein auf einem Stuhl sitzen. Eines Tages kam Fräulein Kleinert auf die Idee, einmal auf dem Dachboden zu sehen, ob sich dort nicht noch eine alte Sitzgelegenheit auftreiben ließ. Und tatsächlich wurde sie fündig. Es war ein ganz kleines niedriges Stühlchen aus Holz. Schnell befreite sie es vom Schmutz. Zu meiner Freude hatte der Stuhl sogar seitliche Lehnen. Der schien gerade auf mich gewartet zu haben! Als der Stuhl sauber war, wurde ich gleich hineingesetzt. Jeder war gespannt, wie ich mit ihm zurechtkam.

      Ein erster Erfolg zeigte sich dann gleich. Ich schrie schon mal nicht mehr. Doch noch immer muss ich Angst gehabt haben. Ich machte mich so steif, dass ich die Beine hochnahm und so nach vorne vom Stuhl rutschte. Es half nur noch eine Methode. Man holte eine Binde und wickelte sie um mich und die Rückenlehne des Stuhles. So konnte ich wenigstens halbwegs – »gefesselt« – allein auf einem Stuhl sitzen. Eine Lösung auf Dauer war dies natürlich nicht. Da half nur eins: Physiotherapie!

      Um unsere körperlichen Fähigkeiten zu testen und zu fördern, hatten wir von Anfang an Physiotherapie. (Dies wurde bei uns früher als »Heilgymnastik« bezeichnet. Später sagte man aber »Physiotherapie«, da das Wort »Heil…« nicht mehr genannt werden sollte, weil es an vergangene Zeiten erinnerte.)

      Fast alle Kinder gingen überhaupt nicht gern dorthin. Dies hatte einen triftigen Grund: die Physiotherapeutin Frau Ziegenbarth, eine schon ältere Frau. Sie erschien in kräftiger und hochgewachsener Gestalt mit grau meliertem Pagenschnitt. Die Frau trat sehr resolut auf. Schon allein dies flößte uns gehörigen Respekt ein. Sie hatte außerdem Methoden, einem etwas beizubringen, die aus damaliger Sicht haarsträubend, ja fast unmenschlich waren. Diese sollte jeder von uns mehr oder weniger stark zu spüren bekommen.

      Wie schon erwähnt, konnte ich kaum auf einem normalen Stuhl sitzen, geschweige dann auf einer Turnbank. Doch dies sollte ich nun erlernen:

      Frau Ziegenbarth setzte mich auf eine solche Bank. Ich machte mich sofort steif und rutschte gleich wieder hinunter. Unsere Therapeutin setzte mich ein weiteres Mal auf diese Bank und schwups lag ich erneut unten. Das Spielchen ging ewig. Frau Ziegenbarth schien unendliche Ausdauer zu haben, ich aber auch! Letztendlich schmiss ich mich schon aus Gnatz auf den Boden. Ich schrie, kratzte und biss sogar. Sie packte mich immer wieder an den Sachen und stauchte mich regelrecht auf die Bank. Ich weinte bitterlich und rief nach meinen Eltern. Doch die waren ja nun einmal nicht da. Ich dachte: »Das scheint die auszunutzen.«

      Mit der Zeit merkte ich langsam, dass ich mit Gnatz und einem Böckchen bei Frau Ziegenbarth nicht durchkam. Dies schien ihr Herz nicht zu erweichen. Ich zeigte einen guten Willen. Und siehe da, sie wurde auf einmal ganz zugänglich. Nun übte sie mit mir ganz ruhig und verständnisvoll das Sitzen auf der Turnbank. Bald konnte ich es. Von da an klappte auch das Sitzen auf meinem Stühlchen alleine und ohne fesselnde Binde.

      Frau Ziegenbarth hatte allgemein sehr eigene Methoden, uns Kindern etwas beizubringen. So zum Beispiel bei denjenigen, die durch eine Halbseitenlähmung ihren einen Arm beziehungsweise ihre Hand nicht richtig bewegen konnten. Sobald sie merkte, dass dieses Kind keinen Willen zeigte, seinen »kranken« Arm zu benutzen, band sie den »gesunden« auf den Rücken. So wurde das Kind kurzerhand gezwungen, seine gelähmte Hand beziehungsweise seinen Arm zu benutzen.

      Viele Eltern beschwerten sich bei Herrn Mertens und Herrn Friedrich über die Behandlungsmethoden von Frau Ziegenbarth. Erfolg hatten sie kaum. So gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Eltern nahmen ihre Kinder aus der Physiotherapie oder sie duldeten die ungewöhnlichen Lernmethoden. Meine entschieden sich für Letzteres, wofür ich ihnen heute sehr dankbar bin!

      Einsicht kommt meistens spät. So verhält es sich auch bei mir. Aber wie soll man als kleines Kind wissen, dass es so eine Frau im Grunde nur gut mit einem meint? Man denkt in diesem Augenblick nur: »Die Frau tut mir weh. Die ist böse.« Was Frau Ziegenbarth mit ihren durchaus umstrittenen Methoden bezwecken wollte, das begreift man erst hinterher.

       Vorbereitung auf die Schule

      Die ersten Wochen und Monate in der Vorschule vergingen sehr schnell. Die vier Wochen Probezeit hatte ich ohne besondere Vorkommnisse hinter mir und lebte mich schnell in die Gruppe ein. Man wollte mich vorerst in Oehrenfeld behalten und mich zu gegebener Zeit noch einmal auf meine Schultauglichkeit testen.

      Doch für ein Mädchen aus unserer Vorschulgruppe war die Probezeit nach vier Wochen vorbei. Schnell merkte man, dass sie uns anderen Kindern geistig weit unterlegen war. Sie störte die Beschäftigungen und besonders die Nachtruhe. Sie lief nachts umher und machte sich in der Regel in der Küche zu schaffen. Dann aß sie aus dem Futtereimer, in dem eigentlich die Speisereste für die Schweine gesammelt wurden. Das Verhalten des Mädchens war einfach zu auffällig und so wurden ihre Eltern gebeten, ihr Kind wieder mit nach Hause zu nehmen.

      Da viele Kinder von weit entfernt nach Oehrenfeld kamen, lohnte es sich kaum, dass unsere Eltern uns jedes Wochenende nach Hause holten. Abgesehen von den langen Fahrzeiten wäre dies für uns Kinder eine viel zu ungeheuerliche Achterbahn der Gefühle geworden. Frühestens am Freitagmittag hätten unsere Eltern anreisen können. Die Freude darauf wäre bei uns Kindern natürlich unendlich groß gewesen. Doch die effektive Zeit, die wir dann in unserem Elternhaus verbringen würden, wäre nicht wirklich lang gewesen. Schon spätestens Sonntag nach dem Mittagessen hieße es dann wieder: »Ab nach Oehrenfeld«. Traurigkeit machte sich so den ganzen Sonntag breit.

      Um uns diese Gefühlsschwankungen zu ersparen, zeigte die Erfahrung, dass es für uns Kinder, aber auch für die Eltern besser war, uns nur zu den Ferien abzuholen. Waren die Zeiten zwischen den Ferien etwas zu lang (unter anderem zwischen den Herbst- und Weihnachtsferien) richtete man einen Besuchssonntag ein.

      Solche Sonntage hasste ich eigentlich. Zwar freute ich mich, dass ich meine Eltern einmal wieder sah. Doch wusste ich, dass sie nach wenigen Stunden abermals ohne mich nach Hause fahren würden. Meistens war an diesen doch ersehnten Sonntagen auch noch Elternversammlung. So blieb im Grunde noch weniger gemeinsame Zeit für uns mit unseren Eltern.

      Am ersten Besuchssonntag, den ich in Oehrenfeld erlebte, fand ein Gespräch zwischen Herrn Dr. Friedrich und