Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend


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Erstes Buch

      An­fang und Ende des Le­bens, heißt es, sind dem Le­ben­den selbst in Dun­kel gehüllt. Nie­mand kann sein geis­ti­ges Da­sein vom Tage sei­ner Ge­burt da­tie­ren. So bin ich erst am Be­ginn mei­nes zwei­ten Le­bens­jah­res zum Be­wusst­sein er­weckt wor­den und be­wah­re da­von bis heu­te die Erin­ne­rung.

      Ich konn­te we­der sit­zen noch lie­gen, weil mein Rücken und mein Ge­säß, wie man mir spä­ter er­klärt hat, zer­prü­gelt und zer­schun­den war. Mein ei­ge­ner Ge­dan­ke und deut­li­cher Licht­blitz aber war: Was soll aus mir wer­den, wenn ich beim Sit­zen und Lie­gen maß­lo­se Schmer­zen habe?

      Es ist mei­ne Amme ge­we­sen, die mich so miss­han­delt hat. An die Prü­gel­pro­ze­dur selbst habe ich je­doch kei­ne Erin­ne­rung.

      Schmerz also hat mei­nen Geist er­weckt, Lei­den mich zum Be­wusst­sein ge­bracht.

      *

      Ich saß auf dem Arm der Kin­der­frau und schrie, durch ir­gen­det­was aufs schwers­te be­lei­digt. Die Bra­ve trug mich durch einen dunklen Kor­ri­dor, der auf den Hof uns­res An­we­sens führ­te. Dort brüll­te mich eine Stim­me an, die mich stumm mach­te. Das war mei­ne ers­te Be­geg­nung mit dem preu­ßi­schen Un­ter­of­fi­zier und die zwei­te Pha­se mei­nes Be­wusst­wer­dens.

      Der gan­ze Hof lag voll Mi­li­tär.

      Ei­nes Ta­ges saß ich, von mei­nem Kin­der­mäd­chen ge­hal­ten, auf dem Fens­ter­brett ei­nes of­fe­nen Fens­ters und guck­te auf den Vor­platz hin­ab. Dort wur­den beim To­ben der Re­gi­ments­mu­sik Re­mon­te­pfer­de zu­ge­rit­ten. Sie stie­gen ker­zen­gra­de in die Luft, sie bock­ten und keil­ten hin­ten aus, be­son­ders die wü­tend ge­führ­ten Schlä­ge der Pau­ker mach­ten sie un­sin­nig.

      Es war, wie ich spä­ter er­fah­ren habe, kurz vor der Schlacht bei Kö­nig­grätz.

      *

      Berüh­run­gen zwi­schen den Sin­nen und Ob­jek­ten, heißt es, ver­an­las­sen die Be­we­gung im Geis­te des Neu­ge­bo­re­nen, die ihn nach al­len Din­gen grei­fen lässt. Dies ge­schieht etwa bis zum drit­ten Le­bens­jahr.

      Mit dem vier­ten Jahr ist es in mir be­reits über­ra­schend hell ge­wor­den.

      Ei­nes Ta­ges er­schie­nen frem­de Sol­da­ten, Ös­ter­rei­cher, auf der Dorf­stra­ße. Es wa­ren Ge­fan­ge­ne und Ver­wun­de­te, hat­te ich auf­ge­fasst. Der eine trug ein wei­ßes, blu­ti­ges Tuch um den Hals. Ich nahm an, ihm sei der Kopf vom Rump­fe ge­schnit­ten und wer­de dar­an durch das Tuch fest­ge­hal­ten. Ein Ge­fan­ge­ner hieß Boa­ba. Er war Tsche­che und sprach nicht Deutsch.

      Um jene Zeit hat­ten sich be­reits die Ge­stal­ten zwei­er Kna­ben, mei­ner Brü­der, in mei­ne See­le ein­ge­prägt. Die ver­wun­de­ten Fein­de in den La­za­ret­ten emp­fin­gen von ih­nen alle mög­li­chen Wohl­ta­ten. Ge­org, der äl­te­re, schrieb von früh bis abends Brie­fe für sie. Von ihm und dem jün­ge­ren Bru­der Carl wur­de täg­lich die Spei­se­kam­mer der Mut­ter aus­ge­plün­dert und der Raub den kran­ken Sol­da­ten zu­ge­steckt.

      Ich teil­te mit Bru­der Carl ein Schlaf­zim­mer. Er war, was in die­sem Al­ter viel be­deu­tet, vier und ein hal­b­es Jahr äl­ter als ich. Er hat­te da­mals schon, ohne es zu ah­nen, in mir sei­nen stil­len Beo­b­ach­ter. Ich wun­der­te mich, ich freu­te mich, ich mach­te mich lus­tig über ihn. Heu­te ein selt­sa­mer Um­stand für mich, ein sol­ches Ver­hal­ten in frü­he­s­ter Ju­gend.

      Carl war ein großer En­thu­si­ast. Ich war ge­neigt, das für Schwä­che zu hal­ten. Von Zeit zu Zeit wur­de, eben­falls im Jah­re 66, der Durch­marsch der Trup­pen für eine ge­wis­se Nacht­stun­de an­ge­sagt. In sol­chen Fäl­len stell­te sich Carl einen großen Korb, ge­füllt mit Blu­men, un­ter das Bett, um sie aus dem Fens­ter über die Marsch­ko­lon­ne aus­zu­schüt­ten. Ich er­in­ne­re mich, wie er ein­mal völ­lig traum­be­fan­gen nach dem Kor­be griff, als von der Stra­ße der dump­fe Marsch­tritt zu uns her­auf­schall­te, wie er schla­fend, ge­schlos­se­nen Au­ges, da­mit zum Fens­ter lief, den Korb ent­leer­te und, ohne ganz er­wacht zu sein, ins Bett zu­rück tau­mel­te. Ich nahm dies nicht er­schreckt, son­dern ki­chernd als et­was über­aus Ko­mi­sches auf.

      *

      Na­tür­li­cher­wei­se wa­ren mir um die­se Zeit be­reits Va­ter und Mut­ter und mein Ver­hält­nis zu ih­nen be­wusst ge­wor­den, eben­so mein El­tern­haus, des­sen Na­men ich kann­te wie den des Or­tes, in dem es stand. Wie war die Kennt­nis un­zäh­li­ger klei­ner Be­zie­hun­gen, in de­nen ich zu al­le­dem stand, in mich ge­kom­men? Ich hät­te es da­mals nicht sa­gen kön­nen und kann es auch heu­te nicht. Die­se Mut­ter, die­ser Va­ter, die­ses Haus, sei­ne Räu­me und sei­ne Um­ge­bung, die­ser gan­ze klei­ne Ort, Ober-Salz­brunn ge­nannt, wa­ren da wie von Ewig­keit. Und eben der Va­ter, die Mut­ter, das Haus, der Ort wa­ren al­les in al­lem für mich: es gab nur das, es gab nichts an­de­res.

      Wai­sen­kin­der le­ben ohne Müt­ter, sie le­ben und ent­wi­ckeln sich. Die See­len­ein­heit, die mich mit mei­ner Mut­ter ver­band, mach­te mir das un­be­greif­lich. Durch das Herz mei­ner Mut­ter, durch ihre Lie­be bin ich im Ver­lau­fe des ers­ten De­zen­ni­ums erst so­zu­sa­gen aus­ge­tra­gen wor­den. Mein Va­ter war der mäch­ti­ge Gott, in des­sen Schutz wir bei­de stan­den. Nichts in der Welt konn­te wi­der ihn et­was aus­rich­ten. Wie stolz, wie dank­bar mach­te mich das, wie ge­noss ich das Glück ei­nes sol­chen Schut­zes im Ge­fühl glück­se­li­ger