Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend


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sein kann, ah­nen im All­ge­mei­nen er­wach­se­ne Men­schen nicht. Was mich zu­nächst am tiefs­ten über­rasch­te und schmerz­te, war das Ver­hält­nis der Mut­ter zu dem Hau­se, ohne das ich mich und die Welt nicht zu den­ken ver­moch­te. Die­se schö­nen Säle, Bil­der und Zim­mer, die­se rät­sel­haf­ten Kam­mern un­term Dach, die­se Trep­pen, Kor­ri­do­re und tau­send­fäl­ti­gen Schlupf­win­kel, die Welt Un­term Saal, der hal­len­de Tun­nel, der von dort in den Hin­ter­gar­ten ging, die be­moos­ten Dä­cher, der Tau­ben­schlag: der ge­ra­de­zu ein­zig­ar­ti­ge, un­über­treff­li­che Schau­platz mei­nes Wer­dens, mei­ner Spie­le, mei­nes Le­bens über­haupt soll­te in Wahr­heit ein wohl auch kin­der­fres­sen­der, glü­hen­der Mo­loch sein, der das Le­bens­glück mei­ner Mut­ter ver­nich­tet hat­te? Mei­ne Mut­ter sel­ber be­haup­te­te das.

      Ihr das zu glau­ben, ih­ren un­be­greif­li­chen Irr­tum, ihre Blind­heit die­sem Pa­ra­die­se ge­gen­über auch nur zu ent­schul­di­gen, war für mich ein Ding der Un­mög­lich­keit. Und so stand ich auf Va­ters Sei­te, als er sag­te, dass nun ein­mal sein se­li­ger Va­ter ihm dies Haus hin­ter­las­sen habe und er, selbst die Pie­tät ge­gen den müh­sam er­run­ge­nen Be­sitz sei­ner El­tern bei­sei­te­ge­setzt, es kei­nes­falls ge­gen ein But­ter­brot ver­schleu­dern kön­ne.

      Die pein­li­che Aus­ein­an­der­set­zung und ihre lei­den­schaft­li­che Maß­lo­sig­keit ka­men ei­nem lo­ka­len Erd­be­ben gleich, das den fa­mi­li­ären Bo­den er­schüt­ter­te. Nie­mals er­lang­te er mehr sei­ne alte Fes­tig­keit.

      Mit die­sen Er­fah­run­gen war die Er­kennt­nis ver­knüpft, dass die selbst­ver­ständ­li­chen Voraus­set­zun­gen mei­nes bis­he­ri­gen Da­seins nicht durch­aus stand­hiel­ten. Mir gin­gen be­stimm­te Sät­ze und Wor­te mei­ner Mut­ter im­mer aufs neue durch den Sinn: »Du sitzt mit Gu­stav im Büro, ihr schreibt, ihr rech­net, ihr rech­net und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rech­net und schreibt, ihr rech­net und schreibt die Schul­den, die uns drücken, nicht weg und könnt die fäl­li­gen Zin­sen nicht auf­brin­gen.«

      Auch mei­nen Ge­schwis­tern wa­ren die schwe­ren Kri­sen zwi­schen Va­ter und Mut­ter nicht ver­bor­gen ge­blie­ben. Selt­sa­mer­wei­se nah­men wir für den Va­ter und ge­gen den Dachrö­dens­hof Par­tei. Aus dem er­reg­ten Ge­mun­kel von Jo­han­na und Carl und ge­le­gent­lich hin­ge­wor­fe­nen Wor­ten der Mut­ter ging mir nach und nach, ge­gen mein Wi­der­stre­ben, auf, dass noch an­de­re Men­schen als wir Ei­gen­tums­rech­te auf den Gast­hof zur Kro­ne hat­ten, was mich aufs schmerz­lichs­te traf und ent­rüs­te­te.

      Im grel­len und pein­li­chen Lich­te die­ser Tage er­klär­te sich mir ein Be­such im ver­gan­ge­nen Jahr, der mich da­mals ei­tel Freu­de und Won­ne dünk­te. Ein rei­zen­des Mäd­chen, Toni, sieb­zehn­jäh­rig, Halb­schwes­ter mei­nes Va­ters und Schwes­ter On­kel Gu­stavs, der im Hau­se war, tauch­te plötz­lich bei uns auf, sie und ihre äl­te­re Schwes­ter. Sie hat­te ein großes Glück ge­macht, wie es hieß, da ein rei­cher In­dus­tri­el­ler aus Rem­scheid um sie ge­wor­ben und ihr Ja­wort er­hal­ten hat­te. Ich war so­gleich in Toni ver­liebt und ge­noss eine Men­ge Zärt­lich­kei­ten von ihr, wie sie ein über­mü­ti­ges und glück­be­rausch­tes Kind an einen Sie­ben­jäh­ri­gen ohne Ge­fahr ver­schwen­den kann. Als nach ei­ni­gen Ta­gen der Bräu­ti­gam er­schi­en, war die Stim­mung ge­dämpf­ter ge­wor­den. Und kurz und gut, Mi­jn­heer Sound­so – er trug sich wie ein Hol­län­der –, ein Ei­sen- und Stahl­wa­ren­fa­bri­kant, hat­te be­schlos­sen, den Ver­mö­gensan­teil sei­ner Braut und im Auf­trag den der an­de­ren Halb­schwes­tern um je­den Preis aus dem Gast­hof her­aus­zu­zie­hen, und ließ sich durch­aus nicht da­von ab­brin­gen.

      In die­sem Be­such wirk­ten sich die Fol­gen der spä­ten Hei­rat mei­nes Groß­va­ters Haupt­mann aus, und mit ihm be­gann der stil­le Verzweif­lungs­kampf mei­nes Va­ters, der den Ver­lust uns­res Gast­hofs und un­se­res Ver­mö­gens schließ­lich und end­lich nicht ab­wen­den konn­te.

      Gu­stav Haupt­mann blieb im Haus, nie aber hat mein Va­ter eine sei­ner Halb­schwes­tern von je­ner Zeit an wie­der­ge­se­hen. Als die ver­wit­we­te Toni mit ih­rem Sohn fast drei­ßig Jah­re dar­auf vor der Tür sei­ner klei­nen Vil­la in Warm­brunn stand, wur­de sie nicht her­ein­ge­las­sen.

      *

      Beim Tode mei­nes Groß­va­ters müs­sen mei­nem Va­ter die ge­schäft­li­chen Schwie­rig­kei­ten bei­na­he über den Kopf ge­wach­sen sein. Es war ihm an­schei­nend noch nicht ge­lun­gen, die Hy­po­the­ken auf­zu­trei­ben, durch die er die Aus­zah­lung sei­ner Halb­ge­schwis­ter er­mög­li­chen konn­te. Sie alle drei, das heißt ihre Män­ner, be­stan­den auf ih­rem Schein. Wir ahn­ten nicht, und auch mei­ne Mut­ter ahn­te wohl nicht, wie es um uns stand, als sie sich dar­über auf­reg­te, dass Va­ter ihr nicht ge­nü­gend Ver­trau­en schen­ke. Wenn er die zum Aus­gleich und zur Ret­tung nö­ti­gen Hy­po­the­ken nicht auf­trei­ben konn­te, so la­gen wir mit­ten im Win­ter auf der Stra­ße, und es brach ein Elend ohne Maß über uns her­ein. Er hat­te recht, wenn er das ver­schwieg.

      Der Brun­nen­in­spek­tor hat­te bei der Ver­tei­lung sei­nes nicht klei­nen Bar­ver­mö­gens fast aus­schließ­lich sei­ne zwei un­ver­hei­ra­te­ten Töch­ter, Eli­sa­beth und Au­gus­te, be­dacht. Kein Wun­der, dass der Gat­te mei­ner Mut­ter Ma­rie, des­sen Schiff im Sturm auf Le­ben und Tod kämpf­te, in einen Zu­stand ge­riet, in dem sich Er­bit­te­rung und Verzweif­lung misch­ten, da ja eine ge­rech­te Ver­tei­lung die Ret­tung sei­nes Schif­fes be­wirkt hät­te.

      Nun, mein Va­ter ret­te­te dies­mal noch selbst sein Schiff. Und dass dies ge­sch­ah und wir von da ab noch fast ein Jahr­zehnt an Bord blei­ben durf­ten, war für die Ent­wick­lung uns­rer Fa­mi­lie von nicht zu über­schät­zen­der Wich­tig­keit.

      *

      Was ich von al­len die­sen Ver­hält­nis­sen mehr ah­nungs­wei­se als wirk­lich wis­send auf­nahm, ver­än­der­te die äu­ße­ren For­men mei­nes Be­tra­gens und mei­nes Le­bens nicht. Die neu­en Be­schwe­run­gen konn­ten der Leich­tig­keit und dem Schwun­ge mei­ner Be­we­gun­gen nichts an­ha­ben. Ich habe er­zählt, wie ich trotz al­lem und al­lem auf dem Kar­ren voll gol­de­nen Laubs im Post­hof mei­ne Jun­gens kut­schier­te, und zwar in vollen­det hei­te­rem Über­mut, trotz­dem mir der Sta­chel, dass ich dem Tode nicht ent­ge­hen kön­ne, im Ge­mü­te saß. Auch das neue Er­leb­nis, konn­te ich es gleich nie end­gül­tig ab­schüt­teln, trat wäh­rend lan­ger Zei­ten, von neues­ten Ein­drücken über­deckt, in das Un­ter­be­wusst­sein zu­rück.

      Die Hil­fe, die mein Va­ter um Neu­jahr er­hal­ten ha­ben muss­te, brach­te ihm also Be­ru­hi­gung; un­ser Le­ben konn­te in al­ter Wei­se fort­ge­hen. Die na­tio­na­len Vor­gän­ge aber wa­ren so un­wi­der­steh­lich auf­schwung­haft, dass sich ihr Geist al­lem, auch un­serm Va­ter, mit­teil­te. Am 18. Ja­nu­ar un­ver­ge­ss­li­chen An­ge­den­kens wur­de im Schloss zu Ver­sail­les Kö­nig Wil­helm von Preu­ßen zum Kai­ser ge­krönt.

      Bis­marck und Molt­ke, Molt­ke und Bis­marck wa­ren in al­ler Mun­de. In der Schu­le san­gen wir »Die Wacht am Rhein«, der alte Bren­del selbst war fest­lich er­regt. Die Horn­haut an den Knie­beln sei­ner Fin­ger, die den Takt auf der Bank klopf­ten, wur­de im­mer di­cker. Er hol­te so­gar in je­der Ge­sangs­stun­de sei­ne Schul­meis­ter­gei­ge her­vor, was er frü­her nie ge­tan hat­te. So­zu­sa­gen