Linda Graham

Resilienz


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       Neuroplastizität

      Alle Fähigkeiten zur Entwicklung und Stärkung Ihrer Resilienz – innere Ruhe im größten Chaos bewahren, Alternativen klar erkennen, die Perspektive wechseln und flexibel reagieren, sich entscheiden, klug zu entscheiden, angesichts von Zweifeln und Entmutigungen nicht aufzugeben – all diese Fähigkeiten sind in Ihrem Sein innewohnend, weil sie angeborene Fähigkeiten Ihres Gehirns sind.

      Unser Gehirn besitzt aufgrund seiner Neuroplastizität unser ganzes Leben lang die Flexibilität, neue Reaktionsmuster auf Ereignisse des Lebens zu bilden. Ein reifes, erwachsenes Gehirn ist physisch stabil, aber seine Funktionsweise ist fließend und plastisch, es ist nicht inert oder starr.4 Unser Gehirn kann neue Neuronen bilden, diese in neuen Schaltkreisen miteinander verbinden, neu Erlerntes in neue neuronale Netzwerke von Gedächtnis und Gewohnheit einbetten und diese Netzwerke dann neu verdrahten, wenn es notwendig ist.

      Die Fähigkeit des erwachsenen Gehirns, sich weiterzuentwickeln und seine Funktionsweise das ganze Leben hindurch zu ändern, ist zweifelsohne die spannendste Entdeckung der modernen Neurowissenschaft. Neuroplastizität im erwachsenen menschlichen Gehirn wurde erst vor circa ungefähr 30 Jahren wissenschaftlich anerkannt, als bildgebende Verfahren es Neurowissenschaftlern ermöglichten, diese Veränderungen im präfrontalen Kortex, dem Exekutivsystem des Gehirns, und in anderen Hirnarealen in Echtzeit zu beobachten. Neuroplastizität ist der Motor allen Lernens, in jedem Moment der menschlichen Lebensspanne.

      Neuroplastizität bedeutet, dass alle Resilienzfertigkeiten, die Sie benötigen, erlernt und wiedererlangt werden können.5 Auch dann, wenn Sie diese in der frühen Kindheit nicht voll entwickelt haben, vielleicht weil es keine gesunden Vorbilder oder keine sicheren Bindungen oder weil es zu viele Widrigkeiten oder Traumata gab, bevor das Gehirn die notwendigen Schaltkreise zur Bewältigung entwickelt hatte. Sie können sie jetzt aufbauen. Ja, wirklich! Das menschliche Gehirn kann jederzeit neue Bewältigungsmuster lernen, diese Muster in neuen neuronalen Schaltkreisen installieren und sogar alte Schaltkreise neu verdrahten, wenn alte Muster keinem konstruktiven Zweck mehr dienen. Die den Bewältigungsstrategien und -verhaltensweisen unterliegenden neuronalen Netzwerke können durch Ihre eigenen Entscheidungen, durch selbst gesteuerte Neuroplastizität, geformt und verändert werden. Sie können nun lernen, sich ändern und wachsen, weil Ihr Gehirn jederzeit lernen, sich verändern und wachsen kann.

       Die Reaktionsflexibilität im Gehirn fördern

      Selbstgesteuerte Neuroplastizität erfordert die Inbetriebnahme des präfrontalen Kortex, des Exekutivsystems des Gehirns.6 Der präfrontale Kortex ist hauptsächlich zuständig für das Planen, die Entscheidungsfindung, für Analysen und Beurteilung. Er zeichnet ebenfalls verantwortlich für viele andere Funktionen, die für unsere Resilienz wesentlich sind: Er reguliert Körperfunktionen und das Nervensystem, verwaltet ein breites Spektrum an Emotionen und er dämmt die Angstreaktion der Amygdala ein. (Und dieses Eindämmen ist unerlässlich für Resilienz!) Der präfrontale Kortex erlaubt es uns, uns auf das empfundene Gefühl unserer eigenen Erfahrung und der Erfahrung anderer einzustimmen, Mitgefühl mit der Bedeutung unserer Erfahrung und der Erfahrung anderer zu haben und uns unseres Selbst bewusst zu werden, während dieses Selbst sich mit der Zeit weiterentwickelt. Er ist der Sitz unseres inneren moralischen Kompasses. Er ist die Struktur der Reaktionsflexibilität, unserer Fähigkeit, Gangart, Perspektive, Einstellung und Verhalten zu ändern.

      Alle diese Fertigkeiten, insbesondere die Fähigkeit, die Gangart reibungslos zu wechseln, reifen mit der Reifung unseres präfrontalen Kortex. Die Gesamtheit des Wachstums, der Entwicklung, des Lernens und des Verlernens – des Neuverdrahtens des Gehirns – ist erfahrungsabhängig. Erfahrung bedeutet, wie das Gehirn lernt, verlernt und neu lernt und zwar alles und immer. Das zeigt sich ganz klar in unserer anfänglichen Entwicklung: Wir lernen laufen, sprechen, lesen, Fußball spielen und Plätzchen backen.

      Wir wissen heute, dass Erfahrung der Katalysator für die Neuroplastizität des Gehirns und für unser lebenslanges Lernen ist. Wir können uns jederzeit für die Erfahrungen entscheiden, die das Lernen des Gehirns auf ein besseres Funktionieren hin ausrichten. Resilienz kann durch Erfahrung jederzeit gestärkt – oder aber auch vermindert – werden.

      Richard Davidson, der Gründer und Direktor des Center for Investigating Healthy Minds an der University of Wisconsin in Madison, meint: »Das Gehirn wird durch Erfahrung geformt. Und basierend auf allem, was die Neurowissenschaft über das Gehirn weiß, ist Veränderung nicht nur möglich, sondern tatsächlich eher die Regel als die Ausnahme. Es ist wirklich nur eine Frage, für welche Einflüsse auf unser Gehirn wir uns entscheiden. Und weil wir die Wahl haben, welche Erfahrungen wir benutzen wollen, um unser Gehirn zu formen, tragen wir die Verantwortung dafür, uns für die Erfahrungen zu entscheiden, die unser Gehirn auf Weisheit und Gesundheit hin formen.«7

       Wie Reaktionsflexibilität entgleisen kann

      Sehen wir uns jetzt die vier Erfahrungen an, die die Entwicklung der Reaktionsflexibilität des Gehirns beeinflussen, und erklären, warum wir manchmal Schwierigkeiten haben, resilient zu sein und Situationen zu meistern.

      1. Frühe Anpassung und Bindungskonditionierung

      Weil unsere frühesten Erfahrungen die Entwicklung und Reifung des präfrontalen Kortex im Gehirn in Gang setzen, sind wir bereits von Anfang an dabei, Reaktionsflexibilität zu entwickeln, wenn die Menschen in unserer unmittelbaren Nähe – Eltern, andere Familienmitglieder, Gleichaltrige, Lehrerinnen, Coaches und andere wichtige Erwachsene – diese Fähigkeit selber besitzen und auch zeigen.8 Wir lernen von diesen Vorbildern, indem wir beobachten, was ihnen bei der Bewältigung von Situationen hilft und was nicht – die Ruhe bewahren und fortfahren oder voller Wut aus dem Zimmer stürmen.

      Wir besitzen diese Fähigkeit, Reaktionen zu beobachten und zu replizieren, weil unser Gehirn dafür angelegt ist, genauso zu funktionieren wie die anderen Gehirne um uns herum, besonders im frühen Kindesalter.9 Diese Anpassung (entrainment) in unseren frühen Bindungsbeziehungen (andere Gehirne übernehmen das Lernen für uns) ist das neurobiologische Konditionierungsfundament unseres Verhaltens: Es ist die Art der Natur, effizient zu sein. Ihr Gehirn lernt, sein eigenes Nervensystem zu regulieren, weil es von den Menschen um Sie herum geregelt wird. Es lernt ein breites Spektrum an Emotionen, indem diese Emotionen von den Menschen um Sie herum wahrgenommen und bestätigt werden. Und es lernt, sich auf seine eigenen Erfahrungen einzustimmen dadurch, wie sich die Menschen um Sie herum auf Ihre Erfahrungen einstimmen.

      Ein Großteil dieses konditionierten Lernens geschieht in den ersten drei Lebensjahren, noch bevor es ein bewusstes Gewahrsein gibt von dem, was geschieht. Das Gehirn codiert dieses prozedurale Lernen in das implizite Gedächtnis (außerhalb des Bewusstseins). Und das gehört ebenfalls zur außergewöhnlichen Effizienz des Gehirns.

      Das Gehirn lernt die meisten seiner Selbstregulationsprozesse – wie es auf andere reagiert und in Beziehung zu ihnen steht – von anderen, noch ehe wir unsere eigenen Entscheidungen treffen und von alleine lernen. Studien haben gezeigt, dass sichere Bindung und frühe Anpassung an andere gesunde Gehirne und gut regulierte Nervensysteme die besten Puffer gegen Stress und Traumata später im Leben sind.

      Während wir älter werden, beginnen wir, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen und selber zu lernen. Der präfrontale Kortex entwickelt sich und wir lernen jetzt weniger durch Anpassung (wenngleich dieser Prozess das ganze Leben lang stattfinden kann) und mehr durch unsere eigenen wachsenden Fähigkeiten des Selbstbewusstseins, der Selbstreflexion und der Selbstakzeptanz. Diese Fähigkeiten helfen uns, die Erfahrungen auszuwählen, die alle Fähigkeiten des Gehirns ausbilden. Und alle diese Erfahrungen rufen Veränderungen in den neuronalen Schaltkreisen unseres Gehirns und damit in unserem Verhalten hervor.

      2. Wenn die Reaktionsflexibilität sich nicht vollständig entwickelt hat

      Wenn unsere frühesten Bindungsbeziehungen dagegen nicht die kompetente Anpassung und Formung der Gehirnentwicklung oder die Vorbildfunktion von Resilienz bereitstellen, wenn wir zu viel Vernachlässigung oder Gleichgültigkeit, Kritik oder Zurückweisung oder widersprüchliche Botschaften und Unvorhersehbarkeit erlebt haben, wird unser