Daniel Reinemer

Komplexe - und jetzt?


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Er oder sie solle sich nicht so anstellen.

      Dabei wussten wir jedoch gar nicht so genau, was überhaupt mit Komplexen gemeint ist, woher das kommt. Wie das halt so ist bei geflügelten Worten. Oder wissen Sie, woher die Begriffe kommen, jemandem »einen Bären aufbinden« oder ein »Kind ist in den Brunnen gefallen«? Nein? Google könnte Ihnen sicher ein wenig weiterhelfen. Ein wenig. Ich würde Ihnen gern ein bisschen mehr über Komplexe erzählen. Denn, ob Sie es glauben oder nicht, Komplexe können unser gesamtes Leben bestimmen. Von unserer Kindheit bis hin zu unserem Abschied. Deshalb weiß ich nicht, ob Ihnen das Folgende gefallen wird: Wenn Ihnen jemand sagt, dass Sie Komplexe haben, dann stimmt das höchstwahrscheinlich.

      Wir alle haben Komplexe. Und wir alle sind von unseren Komplexen abhängig. Sie sind unsere Struktur- und Taktgeber. Sie bestimmen zu einem großen Teil mit, wie wir in den verschiedenen Situationen reagieren.

      Ob in der Arbeit, in der Familie, bei einem Hobby oder in absoluter Ruhe und Einsamkeit – Komplexe sind unsere Begleiter. Fühlen Sie sich in bestimmten Situationen unwohl, könnte das ein Komplex sein. Regen Sie sich immer wieder über den strengen Chef oder die neugierige Nachbarin auf, sage ich Ihnen: Das könnte ein Komplex sein.

      Und das meine nicht nur ich, Daniel Reinemer, das sagte vor allem Carl Gustav Jung (1875–1961), der Schweizer Psychiater und Begründer der Analytischen Psychologie. Neben Sigmund Freud (1856–1939) ist er wahrscheinlich der bekannteste, bedeutendste und nachhaltigste Psychotherapeut. Bevor ich aber später zu ihm und seinem »komplexen« Schaffen komme, ein wenig zu mir.

      Nach meiner Fortbildung am C. G. Jung-Institut in Zürich arbeite ich nun seit fast zehn Jahren psychotherapeutisch in meiner eigenen Praxis in München und halte Vorträge im deutschsprachigen Raum. Dabei war mir nicht immer schon klar, dass ich psychotherapeutisch arbeiten möchte. Auch wenn ich es mittlerweile als Berufung empfinde.

      Mein Interesse galt damals der Medizin, dem Menschen, seinem Körper und der Verbindung zur Psyche. In München begann ich also ursprünglich mit einem Medizinstudium. Nach sechs Semestern musste ich aber das Studium beenden. Der Abbruch fiel mir damals sehr schwer, aber er öffnete auch ein neues Tor für mich: Eine dreijährige Vollzeitausbildung zum Heilpraktiker folgte, in der ich mein Interesse an Körper, Medizin und Psyche vertiefen konnte. Am Ende dieser Ausbildung wurde mir klar, dass es hauptsächlich die Psyche und das Innenleben des Menschen ist, was mich fasziniert. Ich wollte mehr darüber wissen.

      So ging ich also nach Zürich und wurde zur tiefenpsychologisch-analytischen Ausbildung zugelassen. Dort war ich fast vier Jahre und konnte in die Welt der Tiefenpsychologie eintauchen. Mich haben Dozenten wie Verena Kast, Ingrid Riedel, Detlev von Uslar, Carl Möller und natürlich viele andere sehr geprägt und bewegt. Mir wurde in dem Idyll am Zürichsee eine Welt gezeigt, die ich so vorher nicht gesehen und erfahren hatte.

      Und ja, natürlich habe auch ich Komplexe. Ich konnte aber eine Haltung und einen Umgang erlernen, mich mit ihnen zu beschäftigen, sie möglichst in mein Leben zu integrieren und so mit ihnen umzugehen. Das heißt natürlich nicht, dass ich alles über mich weiß oder alle Komplexe in mir kenne. Dies wäre ziemlich vermessen zu behaupten.

      Denn ganz wichtig: Wenn Sie sich in den folgenden Kapiteln angesprochen fühlen, ist das nicht schlimm. Im Gegenteil. Es ist sogar wunderbar, einen tieferen Eindruck von seiner Seele und Psyche zu erhalten. Selbstreflexion ist ein wichtiger Schritt zu einem glücklicheren, umfassenderen Leben. Auf diesem Weg möchte Sie dieses Buch die ersten Schritte begleiten. Sollten Ihre Komplexe aber überhandnehmen, Sie schmerzen oder Sie zu sehr im Griff haben, würde ich Ihnen Gespräche mit Fachleuten empfehlen.

      Um Ihnen nun meinen therapeutischen Ansatz näherzubringen sowie Sie in die Welt der Komplexe einzuführen, würde ich Ihnen gern über eine sehr besondere Person erzählen.

      Vielleicht haben Sie eine spezielle Angst? Angst vor zu vielen Leuten, vor engen Räumen oder vor Spinnen?

      Es gibt verschiedene therapeutische Herangehensweisen, die Angst beispielsweise vor Spinnen, zu behandeln. Oder besser gesagt: mit ihr umzugehen. Ich suche nicht nach der schnellen Lösung. Die Angst könnte durch eine Verhaltenstherapie mithilfe der Konfrontation gelindert werden. Indem Sie sich eine Spinne zunächst ansehen und sie beobachten, bis Sie sich dann trauen, sie auf die Hand zu nehmen – und so die zehrenden Gefühle überwinden lernen. Im besten Falle lässt sich die Angst sogar beseitigen, und Sie werden ein leidenschaftlicher Spinnensammler.

      Selbstverständlich gibt es auch die Möglichkeit, die Angst zu ignorieren. Aber ob das die Lösung ist? Zumal es die interessante Variante gibt, sich mit der Angst an sich auseinanderzusetzen. Sich die richtigen Fragen zu stellen.

      Weshalb ist die Angst da? Welchen Ausdruck findet sie? Vielleicht sogar die gewagte Frage zu stellen: Was will diese schreckliche Angst von mir?

      In einem Gespräch soll C. G. Jung einmal gefragt worden sein, was Depression für ihn genau sei und wie er sie behandle. Seine Antwort soll gelautet haben: »Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz, tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch, und höre, was sie zu sagen hat.«

      Eine Dame in Schwarz also. Hört sich erst einmal bedrohlich an. Aber meiner Meinung nach bringt es wenig, Symptome, Beschwerden und Schwierigkeiten einfach so schnell wie möglich abzuschalten und wegzuschieben. Sie zu verdrängen. Fangen wir also an, Teile in uns nicht mehr wegzuschicken, sondern sie einzuladen. Ihnen die Erlaubnis zu geben, da zu sein.

      Wir alle haben es vielleicht verlernt, gewisse Themen auch auszuhalten. Uns mit ihnen zu konfrontieren und sie zu betrachten. Dabei hat genau eine solche Herangehensweise meiner Meinung nach einen deutlichen Mehrwert.

      Natürlich hat dieser therapeutische Ansatz auch seine Grenzen. Wenn ein Mensch durch sein Leid nur eingeschränkt ist und es ihn weitestgehend blockiert, macht es durchaus Sinn, ihm schnell und systematisch Stabilität zu geben. Damit er sich wohler fühlt, freier leben kann.

      Anschließend sollte man aber zumindest einmal fragen, was das eigentlich war. Woher kam das? Wieso gerade ich? Und zwar zielgerichtet und intensiv.

      Dies wird leider zu oft versäumt, und so laufen wir Gefahr, dass uns Ähnliches wieder passieren kann, wir fast blind erneut in eine solche Lage gelangen. Wir in einen Kreislauf geraten, einen Strudel, der uns immer weiter herunterzieht. Der Zugang nach innen wird gleichzeitig immer mehr erschwert.

      Es macht also Sinn zu verstehen, wie wir in eine Situation gekommen sind und was unser persönlicher Part dabei war. So erhalten wir schließlich bestenfalls Kontrolle darüber. Beim nächsten Mal können wir solche Situationen schon besser erkennen und womöglich Maßnahmen ergreifen.

      Wenn wir Situationen, Gedanken, Gefühle nicht verstehen, sondern immer nur verdrängen, werden sie uns immer wieder passieren.

      Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto auf einer etwas unübersichtlichen Landstraße. In absoluter Dunkelheit, vielleicht scheint schwach der Mond. Die Straße ist zudem eng, und an der Seite verläuft jeweils nur ein schmaler Kiesstreifen. In einer Kurve kommen Sie nun ein wenig von der Fahrbahn ab. Sie fahren auf einen dieser Kiesstreifen, die Reifen drehen durch, und Sie driften noch weiter von der Straße weg. Nicht mehr rechtzeitig treten Sie auf die Bremse. Es kommt zur Gefahrensituation: Sie verlassen die Fahrbahn komplett. Glücklicherweise ist Ihnen nichts weiter passiert – noch nicht.

      Ausgeschlafen erzählen Sie am nächsten Morgen jemandem davon, reflektieren die Situation noch einmal. Sie können sagen: »Ich war ja auch hundemüde und deshalb nicht konzentriert.« Oder: »Es war ja so dunkel, ich konnte natürlich nichts sehen.«

      Diese Analyse der Situation könnte zunächst helfen, nicht mehr in eine solche Lage zu kommen. Aber ob es allerdings sinnvoll wäre, als Maßnahme nicht mehr im Dunkeln zu fahren, wage ich zu bezweifeln.

      Was könnte aber wirklich helfen?

      Sie könnten am nächsten Tag bei Tageslicht zur Unfallstelle zurückgehen und sich die Straße, die Kurve und den Kiesstreifen genauer betrachten. Sich fragen, wie der Unfall passieren konnte, wie Sie mit den Reifen auf diese Spur gekommen sind, was