Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie


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Religion, Ideologien, alle überlieferte Weisheit. Aber der Notwendigkeit von Liebe und Mitgefühl können wir nicht entkommen.

      TENZIN GYATSO, DER 14. DALAI LAMA (2010)

      In der buddhistischen Psychologie ist Mitgefühl eine Form von Empathie. Wir spüren das Leiden anderer wie unser eigenes und wünschen ihnen ganz von selbst und natürlich, dass sie frei von Leiden sein mögen. Jemand, der Mitgefühl hat, ist, anders als jemand, der grausam oder von Groll oder Ärger erfüllt ist, viel mehr auf unsere eigentliche Situation als Menschen eingestellt. In dem Sinn ist Mitgefühl von einer Weisheit bestimmt, die unsere Grundsituation versteht und damit die inneren Ursachen unseres Leidens und unser Potential für Freiheit und Güte. Aus einer buddhistischen Perspektive bildet Mitgefühl in Verbindung mit Weisheit die Grundlage emotionaler Heilung und innerer Freiheit.

      Mitgefühl wird auch als eine geistige Qualität charakterisiert, die, wenn sie kultiviert und gestärkt wird, allen positiven inneren Zuständen Kraft verleiht, wenn wir zu unserem ganzen menschlichen Potential erwachen. Nach der buddhistischen Psychologie entfalten sich die Muster unserer Erfahrung auf der Grundlage unserer Gewohnheiten von Absicht und Reaktion. „Alle Phänomene der Erfahrung haben den Geist als ihren Vorläufer, den Geist als ihren Herrscher, und sie sind vom Geist gemacht“ (Dhammapada, Kapitel 1, Verse 1, 2). So unterstützt ein innerer Zustand von Liebe und Mitgefühl unser eigenes Glück und Wohlsein und hilft, dieses Potential in anderen zu verwirklichen, während Zustände, die von Grausamkeit, Bosheit oder Neid bestimmt sind, das Gegenteil bewirken. In den Systemen buddhistischer Meditation ist Mitgefühl auch eng mit Liebe, Mitfreude und Gleichmut als Grundlage für mächtige meditative Einsicht verbunden; diese bilden zusammen die „vier unermesslichen inneren Haltungen“ oder „die vier Unermesslichen“. Alles in allem wird Mitgefühl als eine Kraft zur Reinigung des Geistes von Verwirrung, zur inneren Heilung und zum Schutz von einem selbst und von anderen gesehen.

      Mitgefühl wird seit Tausenden von Jahren in den drei Haupttraditionen des Buddhismus gelehrt und praktiziert: im Theravāda, im Mahāyāna und im Vajrayāna. Insofern diese Ansätze keinen Glauben an eine höhere Macht verlangen, um ihre positiven Wirkungen zu erzielen, könnte man sagen, dass sie zur Erleichterung von Leiden eher der Psychologie und Philosophie als der Religion verwandt sind. Da die klinische Forschung und Psychotherapeuten beginnen, den Begriff des Mitgefühls systematisch zu erforschen, kann es von Nutzen sein, die Nuancen im Verständnis anzuschauen, die sich in diesen Traditionen in verschiedenen Teilen der Welt herausgebildet haben.

      Mitgefühl im frühen Buddhismus

      und in der Tradition des Theravāda

      Weil nach der buddhistischen Psychologie zu Mitgefühl der Wunsch gehört, dass Lebewesen frei von Leiden sind, ist das buddhistische Verständnis von „Leiden“ (auf Pāli dukkha) für ihr Verständnis von Mitgefühl von Bedeutung. Die Traditionen des Theravāda in Südostasien, die die frühen Lehren des Buddha systematisiert haben, beschreiben drei Ebenen von Leiden: (1) offensichtliches Leiden, (2) das Leiden der Vergänglichkeit und (3) das Leiden selbstbezogener Konditionierung (Harvey, 1990; Buddhaghosa, 1975). Zu offensichtlichem Leiden gehören alle physischen und mentalen Formen von Elend, die wir normalerweise mit dem Wort Leiden verbinden: das Leiden an Krankheit und physischen Verletzungen, das Leiden, das mit Alter und Sterben verbunden ist, und Kummer, innere Not und Qual. Das Leiden der Vergänglichkeit geht auf den vergeblichen Versuch zurück, angenehme Dinge zu bekommen und sie zu besitzen und festzuhalten, als könnten sie eine stabile Quelle von Sicherheit und Wohlbefinden sein. Die vergänglichen Dinge, an die unser Geist um des Glückes und der Sicherheit willen hängt, werden zu etwas, was zu Leiden führt, da wir sie im Laufe des Lebens immer wieder verlieren und unvermeidlich auf den Tod zugehen.

      Das Leiden selbstbezogener Konditionierung liegt den ersten zwei Formen von Leiden zugrunde. Diese Form von Leiden gehört zu dem unterbewussten Versuch des Geistes, aus dem vergänglichen Strom seiner Erfahrung den Eindruck eines substanziellen und unveränderlichen Gefühls eines getrennten Selbst zu erzeugen, das von einer stabilen Welt umgeben ist. Der permanente Versuch des Geistes, einen verdinglichten, unveränderlichen Eindruck von sich selbst und der Welt herzustellen, hat seinerseits zahlreiche von Angst geprägte Denk- und Reaktionsmuster zur Folge: Klammern an alles, was ein fixiertes, unveränderliches Selbst und seine Welt zu bestätigen scheint, Angst vor oder Hassen von allem, was es zu bedrohen scheint (siehe Kapitel 9 und 13). Das unkontrollierbare Schwanken und Pendeln durch solche Gefühle als Reaktion auf die mentalen Konstrukte von uns selbst und anderen ist das Leiden selbstbezogener Konditionierung (Makransky, 2010).

      Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung sind den meisten Menschen nicht bewusst, aber der Buddha durchschaute sie während seines Erwachens (bodhi). Das Mitgefühl des Buddha, wenn er Menschen wünschte, frei von Leiden zu sein, richtete sich auf alle drei Ebenen, deren zwei letztere auch da sind, wenn offensichtliches Leiden fehlt. Aus diesem Grund galt das Mitgefühl des Buddha allen Wesen in gleicher Weise. Es ist dieses unparteiliche, unbedingte und allumfassende Mitgefühl, das der Buddha seinen Anhängern vermittelte und an sie weitergab.

      Achtsamkeit

      Auf dem Weg zum Erwachen, wie der Buddha ihn gelehrt hat, hat Achtsamkeit eine Schlüsselfunktion. Kultivieren von Achtsamkeit bedeutet, waches Bewusstsein der gegenwärtigen Erfahrung, ohne zu werten, lernen und üben (siehe Kapitel 2). Wie schon bemerkt entstehen die Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung aufgrund der unbewussten Gewohnheiten der Verdinglichung – weil der Geist versucht, ein Gefühl der Permanenz von einem selbst und der Welt herzustellen und festzuhalten, das der Geist auf seine vergängliche Erfahrung projiziert. Wenn die Tendenzen, an Illusionen von Permanenz festzuhalten, von wacher Bewusstheit erhellt werden, werden wir uns neu bewusst, wie viel Angst und Unsicherheit unser Klammern erzeugt hat. Wir können dann erkennen, wie diese unterbewussten Schichten von Leid in allen anderen Menschen wirksam sind. So entstehen immer stärker Sympathie und Mitgefühl für einen selbst und für andere, während wir Einsicht gewinnen, dass das Selbst vergänglich und seinem Wesen nach ein Konstrukt ist. Sympathie und Mitgefühl in Beziehung zu uns selbst prägen die sanfte, annehmende Qualität achtsamer Aufmerksamkeit und ermöglichen unserem Geist, sich weiterer Einsicht zu öffnen. Und dies hilft dann wiederum, ein zunehmend mitfühlendes und differenziertes Bewusstsein von anderen in ihrem bewussten und unterbewussten Leiden zu verwirklichen und zu stärken.

      Die innersten Ursachen von Leiden, wie es von dem Buddha diagnostiziert wurde – die Illusion eines verdinglichten fixierten, unveränderlichen Selbst und die auf Täuschung beruhenden Reaktionen von Anhaften und Ablehnung, die sich um es aufbauen –, werden von einer sich vertiefenden Einsicht oder Weisheit zunehmend aufgeweicht und geschwächt. Diese Einsicht, die das Konstrukt der Getrenntheit des Geistes durchschneidet, ermöglicht uns, andere als fundamental uns gleich zu erleben und wahrzunehmen, und stärkt dadurch unsere Sympathie für sie (Fulton, 2009). Wenn jemand durch so eine Einsicht von den inneren Ursachen von Leiden ganz befreit ist, so wird gelehrt, wird Nirvāna erlangt – eine zutiefst innere Freiheit von den Leiden, die mit dem Festhalten an einem Selbst verbunden sind. Wenn sich diese Einsicht in ihrer Verwirklichung von Nirvāna zunehmend vertieft, erweitert sie sich zu der Erkenntnis, dass das darunter liegende Potential für die innere Freiheit auch das ist, was man selbst und andere, was alle Menschen gemeinsam haben. Das aus dieser befreienden Einsicht resultierende Mitgefühl wird daher von dem vielfältigen Leiden, die es in Lebewesen spürt, nicht entmutigt oder bedrückt, sondern bleibt sich vielmehr ihres Potentials für tiefe Freiheit von Leiden bewusst. So ein Mitgefühl hält nicht nur andere in ihrem dahinterliegenden Potential und stützt sie darin, sondern stellt auch Aspekte ihres Denkens und Handelns infrage, die ihr Potential verbergen (Aronson, 1986; Makransky, 2010).

      Der Achtfache pfad

      Mitgefühl wird deshalb implizit mit dem ganzen Prozess des Erwachens assoziiert, der sich dadurch entfaltet, das sich Achtsamkeit und Einsicht vertiefen, die im Achtfachen Pfad des Buddha als Rechte Achtsamkeit und Rechtes Verständnis bezeichnet werden. Mitgefühl wird also implizit mit den anderen sechs Faktoren in Beziehung gebracht, die in Gestalt des Achtfachen Pfades kultiviert werden: Rechte Gesinnung, Rechte Rede, Rechtes Handeln, Rechter Lebensunterhalt, Rechte Anstrengung und